Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag hat dem Wunsch des Sicherheitsrates entsprochen und seinen ersten Bericht in der Libyen-Situation vorgelegt. Darin hat er seine Ermittlungstätigkeit näher beschrieben und angekündigt, den Erlass von drei Haftbefehlen zu beantragen.
Grundlage des Berichts
1 Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) existiert und arbeitet unabhängig von den Vereinten Nationen (VN). Als selbstständiges Völkerrechtssubjekt ist er nicht an die Beschlüsse andere Organisationen gebunden. Dies gilt selbst für Sicherheitsratsresolutionen nach Kapitel VII der VN-Charta (VNCh). Auch diese können den IStGH nur dann binden, wenn das IStGH-Statut dies vorsieht.
2 An keiner Stelle sieht das Statut eine Berichtspflicht des Anklägers gegenüber dem Sicherheitsrat vor. Daher fordert der Sicherheitsrat den Ankläger auch nicht auf, sondern « lädt ihn ein » (Res. 1970 [2011]) , regelmäßig Bericht zu erstatten. Diese Einladung nimmt der Ankläger an und berichtet dem Sicherheitsrat in seinem ersten Bericht von Mai 2011 über die ersten zwei Monate der Ermittlungen.
Die Lage in Libyen als Situation im Sinne des Art. 13 lit. b) IStGH-Statut: Die Probleme der Komplementarität und Verbrechensschwere
3 Der Ankläger betont, dass die Kriterien der Jurisdiktion, Komplementarität und Schwere der Vorwürfe erfüllt seien und damit die Ermittlung durch den IStGH auslösen (zur Jurisdiktion s. R. Frau, Sicherheitsratsresolution 1970 [2011] – Rechtsgrundlage für Ermittlungen in Libyen, DarfurSituation.org Analyse Nr. 9, 2011).
4 Komplementarität: Der IStGH darf nur tätig werden, wenn innerstaatliche Strafverfolgung nicht erfolgt oder nicht erfolgversprechend ist, Art. 17 IStGH-Statut. Die angeblichen libyschen Strafverfolgungsmaßnahmen durch eine nationale Kommission finden nach den Erkenntnissen des Anklägers nicht statt.
5 Damit existiert keine Strafverfolgung, die den IStGH an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit hindert.
6 Zur Schwere der Verbrechen stellt der Ankläger fest, dass allein die Überweisung durch den Sicherheitsrat eine solche Schwere nahelege. Das erscheint wie ein Taschenspielertrick, ist aber durchaus berechtigt. Der Sicherheitsrat ist nicht als Organ bekannt, das vorschnell handelt und „leichtere“ Konflikte mit Maßnahmen nach Kapitel VII VNCh behandelt. Die vielgescholtene politische Zusammensetzung des Sicherheitsrates sorgt hier für eine Vorauswahl nur der schwersten Situationen.
7 Anhaltspunkte findet der Ankläger weiterhin in der Anzahl der getöteten Personen. Der Ankläger hält die Zahl von 500 bis 700 getöteten Personen für realistisch, während der Nationale Übergangsrat, die bekannteste Organisation der Rebellen, von mehr als 10.000 Toten spricht und die libysche Regierung von nicht mehr als 200 Toten ausgeht.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
8 Diese Unsicherheiten bezüglich der Tatsachenlage stellen ein Problem bei der Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Dies bedarf einer genaueren Erläuterung.
9 Leitgedanke der Sicherheitsratsüberweisung war es, die in Libyen stattfindenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu ahnden (vgl. Erwägungsgrund 6 der Präambel Res. 1970 [2011]). Der Ankläger hält den Verdacht auf diese Verbrechen für begründet, insb. Vorwürfe wegen vorsätzlicher Tötung (Art. 7 Abs. 1 lit. a] IStGH-Statut), Freiheitsentzug (Art. 7 Abs. 1 lit. e] IStGH-Statut), Folter (Art. 7 Abs. 1 lit. f] IStGH-Statut) und Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft (Art. 7 Abs. 1 lit. h] IStGH-Statut).
10 Der Ankläger betont, dass er für jeden Vorfall mindestens zwei Augenzeugen habe, deren Zeugnis durch Dokumente oder Foto- und Filmbeweise gestützt werde.
11 Problematisch ist aber nicht so sehr die Frage, ob wirklich Menschen getötet wurden, sondern ein rechtlicher Aspekt. Das Statut bestimmt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur dann vorliegen, wenn eine Handlung im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wurde (Chapeau des Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut).
12 In der Kenia-Situation, die eine ähnliche, weil plötzliche, Gewalteskalation zwischen Regierung und Protestierenden zum Gegenstand hat, kann der Richter Hans-Peter Kaul einen solchen ausgedehnten oder systematischen Angriff nicht erkennen.
13 In seinem Bericht in der Libyen-Situation legt der Ankläger daher Wert darauf, dass sich alle Vorfälle ähnelten und so für einen systematischen Angriff sprechen würden. Allerdings bleibt dies doch noch etwas im Vagen, da der Ankläger zumindest in dem Bericht weitere Anhaltspunkte für eine Systematik schuldig bleibt.
Die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts
14 Der Ankläger geht von der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts aus. Dies ist nur der Fall, wenn ein internationaler oder ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt.
15 Seit geraumer Zeit liegt ein nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der libyschen Regierung und den Rebellen vor.
16 Der Ankläger geht in seinem Bericht davon aus, dass dieser nicht-internationale bewaffnete Konflikt seit Ende Februar 2011 vorliegt. Leider konkretisiert er den Beginn nicht – weder knüpft er an einen genauen Zeitpunkt noch an ein Ereignis an. Ihm ist allerdings zuzustimmen, dass gegen Ende Februar von einem solchen Konflikt ausgegangen werden muss (vgl. R. Frau, Sicherheitsratsresolution 1970 [2011] – Rechtsgrundlage für Ermittlungen in Libyen, DarfurSituation.org Analyse Nr. 9, 2011, Rn. 10 ff.).
17 Etwas verwunderlich sind einige Stellungnahmen des Anklägers zu diesem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. So spricht der Ankläger häufiger von der Tötung von Kombatanten und angeblichen Kriegsgefangenen. Das Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts kennt beide Kategorien jedoch nicht. Die Anklagebehörde muss daher in Zukunft etwas sorgfältiger mit den Begrifflichkeiten umgehen.
18 Parallel zu diesem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt liegt ein internationaler bewaffneter Konflikt zwischen der libyschen Regierung und den Staaten, die von der Ermächtigung der Res. 1973 (2011) Gebrauch machen, vor.
Mögliche Kriegsverbrechen…
19 In beiden Konflikten können Kriegsverbrechen begangen werden; dies hält der Ankläger nunmehr ausdrücklich für möglich, nachdem er zu Beginn der Ermittlungen dies noch nicht in Betracht gezogen hatte. Die Entscheidung des Anklägers ist in dieser Hinsicht zu begrüßen.
20 Der Ankläger identifiziert hier allerdings nur Kriegsverbrechen in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Von einem Verdacht auf Kriegsverbrechen in dem internationalen bewaffneten Konflikt spricht er nicht. Dies liegt schlicht daran, dass die Verbrechen eben in dem Bürgerkrieg begangen werden und es keine Anhaltspunkte für Verbrechen in dem internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Libyen und der Staatengemeinschaft gibt – gleichgültig, ob von Seiten Libyens oder von Seiten der Staatengemeinschaft.
…und deren Spannungsverhältnis zu der Gerichtsbarkeitsausnahme
21 Allerdings wird die Gerichtsbarkeitsausnahme, die durch Res. 1970 (2011) geschaffen wurde, zu den Kriegsverbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt in einem Spannungsverhältnis stehen.
22 In Abs. 6 Res. 1970 (2011) nimmt der Sicherheitsrat Angehörige von Staaten, die nicht Vertragspartei des IStGH-Statuts sind, von der Gerichtsbarkeit des IStGH aus. Dieser Ausschluss ist völkerrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. R. Frau, Sicherheitsratsresolution 1970 [2011] – Rechtsgrundlage für Ermittlungen in Libyen, DarfurSituation.org Analyse Nr. 9, 2011, Rn. 9). In der Diskussion über den Bericht haben etliche Sicherheitsratsmitglieder erneut betont, wie wichtig ihnen diese Gerichtsbarkeitausnahme ist. Diese Ausnahme reicht dem Wortlaut nach aber nur soweit, wie der Sicherheitsrat zu Maßnahmen in Libyen ermächtigt. Allerdings hat der Sicherheitsrat den Staaten mit Res. 1973 (2011) einen sehr weitreichenden Handlungsspielraum zugestanden.
23 Warum steht diese Ausnahme nun in einem Spannungsverhältnis zu den Kriegsverbrechen?
In Libyen liegt ein internationaler bewaffneter Konflikt vor. In diesem können nicht nur libysche Soldaten, sondern auch Angehörige der ausländischen Streitkräfte Verbrechen begehen. Durch die Ausnahme ist der IStGH aber u. U. daran gehindert (oder genauer: erst gar nicht dazu befugt) diese Handlungen einer strafrechtlichen Prüfung zu unterziehen.
Damit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen libyschen Streitkräften und Angehörigen der Streikträfte einer IStGH-Vertragspartei einerseits und Drittstaatsangehörigen andererseits.
24 Es ist völkerrechtlich zulässig, die Gerichtsbarkeit des IStGH am Kriterium der Staatsangehörigkeit festzumachen; die Gerichtsbarkeit also zu eröffnen oder eben auszuschließen.
25 Der IStGH hat grundsätzlich keine Rechtsmacht über Drittstaatsangehörige. Erst die Kapitel-VII-Resolution des Sicherheitsrates begründet die völkerrechtliche Kompetenz, Drittstaatsangehörige auf dem Territorium eines Drittstaates strafrechtlich zu verfolgen. Der Sicherheitsrat hat bei der Auswahl seiner Maßnahmen, hier der Überweisung an den IStGH, einen sehr weiten Ermessenspielraum, den er im Falle Libyens einwandfrei genutzt hat.
26 Das Spannungsverhältnis erweist sich damit als rein politisch. Dennoch ist es nicht ohne Auswirkung auf die Arbeit des IStGH. Es steht zu befürchten, dass die Einstellung bzw. Nichtaufnahme eines Verfahrens gegen bspw. US-amerikanische Bomberpiloten erneut Diskussionen über die Legitimität des IStGH hervorrufen wird. Die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des IStGH werden in einem solchen Fall durch eine breite Öffentlichkeit wohl angezweifelt werden – auch wenn der IStGH in diesem Fall rechtlich gar nicht hätte anders handeln dürfen.
Die möglichen Verdächtigen
27 Der Ankläger spricht davon, nur die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu wollen, auch wenn er die derzeitig Verdächtigen namentlich nicht genannt hat. Zu dem Kreis der Hauptverantwortlichen gehörten vor allem die Personen, die die identifizierten Vorkommnisse angeordnet, dazu angestiftet, diese finanziert oder geplant haben. Ob der Ankläger auch einen Haftbefehl gegen Muammar al-Gaddafi beantragen wird, bleibt abzuwarten.
28 Der Ankläger geht allerdings nicht davon aus, dass nur die regulären libyschen Streitkräfte und die Regierung Verbrechen begangen haben – auch auf Seiten der Rebellen sei es bereits zu Verbrechen gekommen. Er verweist auf das Lynchen einiger „sub-saharischer Afrikaner“, die angeblich Söldner des Gaddafi-Regimes gewesen seien, durch einen Mob. Zwar ist selbstverständlich, dass der Ankläger allen Vorwürfen nachgeht. Doch sei es hier besonders betont, verdeutlicht dies doch die Unabhängigkeit der Untersuchungen von politischen Motiven. Es ist daher zu begrüßen.
29 Unwahrscheinlich ist es, dass Staatsangehörige fremder Staaten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, dazu fehlt es wohl an einem ausgedehnten oder systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung. Die Frage nach Kriegsverbechen durch ausländische Staatsangehörige bleibt dahingestellt.
Das zukünftige Vorgehen
30 Der Ankläger wird demnächst Haftbefehle beantragen. Die Entscheidung darüber obliegt der Vorverfahrenskammer I. Der Ankläger zeigt sich zuversichtlich, dass diese auch ausgestellt werden und stellt in Aussicht, weitere Verfahren zu eröffnen.
Kooperationspflichten
31 Die Regierung Libyens ist verpflichtet, die Durchsetzung der Haftbefehle sicherzustellen. Sollten die Haftbefehle gegen Mitglieder der Regierung erlassen werden, so darf damit allerdings nicht gerechnet werden.
32 Die Rebellen in Libyen haben laut Aussagen des Anklägers bereits angekündigt, mit dem IStGH zu kooperieren und etwaige Haftbefehle zu vollstrecken. Abgesehen davon, ob die Rebellen tatsächlich in der Lage sind, Verhaftungen vorzunehmen und die verhafteten Personen an den IStGH zu überstellen, und ob dies rechtlich zulässig wäre, muss wohl bezweifelt werden, dass eigene Mitkämpfer ausgeliefert werden.
33 Der Ankläger gibt zu verstehen, dass die Pflicht, den Haftbefehlen Folge zu leisten, sich nicht auf Libyen beschränkt: Res. 1970 (2011) verpflichtet die Vertragsparteien des IStGH-Statuts dazu, mit dem IStGH zu kooperieren, also die Haftbefehle durchzusetzen. Damit spielt der Ankläger auf die mangelden Kooperation einiger afrikanischer Vertragsparteien an – bis heute reist Omar al-Bashir, der mit Haftbefehl gesuchte Präsident des Sudan, unbehelligt in zahlreiche Staaten, die das IStGH-Statut ratifiziert haben. Damit brechen diese Staaten ihre vertraglichen Verpflichtungen (vgl. R. Frau, Der Sudan verweigert die Zusammenarbeit im Fall Harun / Ali Kushayb, DarfurSituation.org Analyse Nr. 6, 2010; R. Frau, Trotz Haftbefehls: Omar al-Bashir auf Staatsbesuch – Zur Kooperationspflicht einiger Staaten, DarfurSituation.org Analyse Nr.7, 2010).
Ergebnis
34 Der Bericht des Anklägers ist zu begrüßen. Vor allem die Tatsache, dass der Ankläger sich nicht mehr nur auf den Vorwurf von Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentriert, sondern auch Kriegsverbrechen in Betracht zieht, spricht für eine umfassende Untersuchung durch den Ankläger. Allerdings bedarf es dort eines besseren und „saubereren“ Vorgehens. Zu begrüßen ist, dass der Ankläger schnell arbeitet und bereits erste Haftbefehle beantragen wird.
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