Die Darfur-Situation steht still. Derzeit befindet sich kein Verdächtiger oder Angeschuldigter in Den Haag. Vielmehr sind die per Haftbefehl gesuchten Personen noch immer auf freiem Fuß und begehen weitere Verbrechen. Am prominentesten ist der Fall al-Bashir. Der wegen des Verdachts auf Völkermord gesuchte Präsident des Sudan ist nicht nur weiter im Amt, sondern behindert die Arbeit des IStGH wo immer er nur kann. Darüber hinaus reist al-Bashir unbehelligt durch Afrika und genießt eine breite Unterstützung anderer Staatsoberhäupter.
Angeregt durch diese Missachtung des IStGH plädiert David Kaye für eine Neuausrichtung des IStGH. Kaye, Direktor des International Human Rights Programs der UCLA, nimmt die für 2012 vorgesehene Neubesetzung des Chefanklägerpostens zum Anlass, seine Sorgen über die Zukunft des IStGH zu äußern (Who´s afraid of the International Criminal Court? in: Foreign Affairs 90 [2011], S. 118 ff.). Seine Bedenken gelten nicht nur der Darfur-Situation sondern der gesamten Arbeit des IStGH: Trotz neun Jahre und fast einer Milliarde Dollar ist noch kein einziger Prozess zum Abschluss gekommen.
David Kayes Kritik
Beachtenswert sind vor allem die folgenden kritischen Aspekte in Kayes Kritik.
David Kaye vermisst eine klare Ausrichtung der Anklagebehörde auf die Strafverfolgung – ein hartes Urteil über eine Strafverfolgungsbehörde. Der derzeitige Amtsinhaber sei, so Kaye, vielmehr auf öffentlichkeitswirksame Maßnahmen aus (Haftbefehl gegen al-Bashir). Moreno Ocampos Amtszeit sei schon jetzt von „micro-managing and erratic decision-making“ gekennzeichnet. Er verstricke sich in Rangeleien um Kompetenzen mit den Kammern des Gerichtshofs; damit werden Spannungen innerhalb des IStGH deutlich, der doch eigentlich als einheitliche Front gegen Völkerstraftäter auftreten sollte.
Den Haftbefehl gegen al-Bashir hält Kaye für eine Fehlentscheidung. Nicht nur sei der Antrag nur ergangen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es wäre auch sinnvoller gewesen, zuerst einige Fälle gegen Personen auf unteren Kommandoebenen durchzuführen. Dann habe man eine breitere, gesicherte Basis um gegen höhere Befehlshaber vorzugehen. Weiterhin habe der Ankläger riskiert, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird und so zunächst die Effektivität beeinträchtigt und danach die Glaubwürdigkeit und den Ruf des IStGH aufs Spiel gesetzt wurden. Der IStGH erweisst sich, mit einigen unvollstreckten (oder unvollstreckbaren?) Haftbefehlen eben als der Papiertiger, den Befürworter der IStGH fürchten und Kritiker des IStGH herbeisehnen.
Dem Ankläger ist aber zugutezuhalten, dass al-Bashir wohl in der geheimen Liste von 51 Verdächtigen steht, die die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen schon 2005 an den IStGH übergeben hat. Kaye übersieht diesen Punkt in seiner Kritik.
Auf die Liste kommt Kaye dennoch zu sprechen; er nutzt sie als weiteren Angriffspunkt gegen Moreno-Ocampo. Kaye kritisiert, zu Recht, dass erst gegen fünf Personen Verfahren vor dem IStGH geführt werden und dass das Verfahren gegen Abu Garda im Vorverfahren eingestellt wurde (vgl. Analyse Nr. 5). Der Ankläger kennt aber seit 2005 mindestens 45 weitere Personen, gegen die ermittelt werden kann. Warum gegen diese nicht ermittelt wird, ist nicht auszumachen; es mag aber an den begrenzten Ressourcen des Gerichtshofs liegen.
Die Wirkungslosigkeit des IStGH sei aber nicht nur dem IStGH und dem Ankläger zu verdanken. Ebenso in der Pflicht sieht Kaye den Sicherheitsrat. Dieser hat die Darfur-Situation an den IStGH überwiesen und damit zumindest politisch Verantwortung übernommen – auch für die Zukunft des Verfahrens. Für eine effektive internationale Strafverfolgung ist die Hilfe des Sicherheitsrates unerlässlich: Haftbefehle könnten vollstreckt werden, wenn der Sicherheitsrat solchen Staaten mit Sanktionen drohen wurde, die die Haftbefehle des IStGH missachten und Verdächtige frei ein- und ausreisen lassen. Über die Darfur-Situation hinaus gelte dies, so Kaye, auch für alle anderen anhängigen Situationen vor dem IStGH.
Verschlechterung der Lage durch Überweisung der Libyen-Situation?
Nur zwischen den Zeilen gibt Kaye zu verstehen, dass die Überweisung der Libyen-Situation die Lage verkomplizieren wird.
Den Antrag auf den Erlass von Haftbefehlen in der Libyen-Situation hält David Kaye für einen Fehler. Nicht nur, dass der Ankläger die Situation erst ausermitteln sollte, er sollte vor allem nicht schon wieder an der Spitze der Befehlskette anfangen und Muammar al-Gaddafi vor den IStGH stellen wollen. Der IStGH sei schlicht überfordert, wenn er gegen zwei amtierende Staatsoberhäupter gleichzeitig ermittelt.
Kaye bemängelt, dass im Verfahren gegen Thomas Lubanga Dyilo verpasst wurde, die Anklage möglichst breit zu streuen und viele mögliche Punkte anzuklagen. In diesem Verfahren vermisse er vor allem Anklagepunkte wegen sexueller Gewalt und geschlechterspezifischen Verbrechen.
Die Kritik gilt, das sagt Kaye nicht, auch für den ersten Haftbefehlsantrag in der Libyen-Situation. Auf dieser Website wurde bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass in Libyen nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch Kriegsverbrechen in Betracht kommen. Der Ankläger hat seinen Antrag von Mai 2011 aber ausdrücklich nicht auf die Begehung von Kriegsverbrechen erstreckt. Warum er eine solche Beschränkung vornimmt, obwohl er inzwischen die Existenz eines bewaffneten Konflikts anerkennt, bleibt für mich unverständlich. Dank der Beschränkung muss sich die Anklage nunmehr auf den Begehungszusammenhang bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentrieren – wie die Kenia-Situation zeigt, wird dies nicht einfach werden (vgl. Analysen Nr. 9 und 10, Analyse Nr. 11 mit weiteren Ausführungen zu diesem Problem erscheint demnächst).
Was ist von der Kritik zu halten?
Was ist von der Kritik zu halten? Kaye hat in vielen Punkten Recht, so sind insb. nicht alle Schritte der Anklagebehörde nachzuvollziehen. Allerdings muss man dem IStGH anrechnen, dass er gegen viele Widerstände zu kämpfen hat und eben nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, nicht die volle Unterstützung der Staatengemeinschaft zu haben. Insbesondere der Sicherheitsrat ist immun gegen Kritik von Außen. Im Interesse der effektiven Strafverfolgung dürfte es aber liegen, sich zunächst auf low-profile Täter zu konzentrieren, bevor aufgrund auch der dort ermittelten Sachverhalte die Spitze der Befehlskette angegangen wird. Auch darf nicht vergessen werden, dass der Ankläger nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung hat um sechs Konflikte aufzuarbeiten, von denen er fünf überwiesen bekommen und sich nur eine „selbst ausgesucht“ hat. Insofern sind wohl die Staaten und der Sicherheitsrat in der Pflicht, bevor dem Ankläger die Schuld an mangelndem Erfolg gegeben werden kann.
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