Am 27.6.2011 hat die Vorverfahrenskammer I des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag Haftbefehle gegen den libyschen de-facto-Staatschef Muammar al-Gaddafi, dessen Sohn und libyschen de-facto-Regierungschef Saif-al-Islam und den Chef des militärischen Geheimdienstes Abdullah al-Senussi erlassen. Sie ist dabei im Großen und Ganzen dem Antrag des Anklägers von Mitte Mai gefolgt – eine unglückliche Entscheidung.

(1) Die Haftbefehle ergingen wegen des Verdachts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit der vorsätzlichen Tötung (Art. 7 Abs. 1 lit. a] IStGH-Statut) und der Verfolgung (Art. 7 Abs. 1 lit. h] IStGH-Statut). Die Kammer sieht den erforderlichen Begehungszusammenhang als erfüllt an. Dieses geschieht mit großem Begründungsaufwand, denn das Chapeau von Art. 7 IStGH-Statut setzt voraus, dass eine Handlungen im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen werden muss, um als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gelten.

(2) Konsequenterweise stellt die Kammer keinen Haftbefehl für Kriegsverbrechen aus. Konsequent, weil schon der Antrag des Anklägers ausdrücklich keine Kriegsverbrechen umfasste. Dies verwundert. Denn zu Recht geht der Ankläger davon aus, dass „seit Ende Februar“ ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt. Er meint sogar ausdrücklich, dass Kriegsverbrechen begangen werden. Umso erstaunlicher, dass Kriegsverbrechen fehlen, weil diese gerade keinen Begehungszusammenhang erfordern, sondern nur, dass eine Tat im bewaffneten Konflikt begangen wurde. Damit ist der Begründungsaufwand kleiner, eine geplanter Großangriff auf die Zivilbevölkerung muss gerade nicht nachgewiesen werden. Warum der Ankläger seinen Antrag beschränkt hat, erschließt sich nicht.

(3) Die Gesuchten genießen keine Immunität. Dies gilt allerdings erst seit dem 26.2.2011, denn erst an diesem Tag hat der Sicherheitsrat mit Resolution 1970 (2011) etwaige gewohnheitsrechtliche Immunitäten aufgehoben. Der vertragsrechtliche Verzicht auf die Immunität durch Art. 27 IStGH-Statut gilt für Libyen als Nichtvertragspartei gerade nicht. Rückwirkend kann auch der Sicherheitsrat die Immunität nicht aufheben. Problematisch dabei ist, dass die den Gaddafis vorgeworfenen Taten, in dem „Zeitraum vom 15.2. bis mindestens zum 28.2.2011“ begangen worden sind. Damit muss sich der Haftbefehl auf die letzten beiden Februartage beschränken, um völkerrechtsgemäß zu sein. Al-Senussi ist der Kammer zufolge für den Zeitraum bis zum 20.2.2011 verantwortlich, da unsicher ist, ob er später noch Einfluss über den Geheimdienst hat.

(4) Vollstreckt werden müssen die Haftbefehle von den Mitgliedstaaten des IStGH und von Libyen selbst, das als Nichtvertragspartei über Res. 1970 (2011) zur Kooperation verpflichtet wurde, jede Kooperation aber ablehnt. Der Nationale Übergangsrat der Aufständischen hat bereits angekündigt, die Haftbefehle vollstrecken zu wollen. Entgegen der Ansicht des Anklägers deckt Res. 1973 (2011) des Sicherheitsrates eine Festnahme durch fremde (Boden-)Truppen: Dort sind alle (militärischen) Maßnahmen zum Schutz von Zivilpersonen erlaubt (Rn. 4), die Haftbefehle ergehen, um weitere Verbrechen gegen die Bevölkerung zu verhindern (Art. 58 I lit. b] iii] IStGH-Statut und jeweils S. 6 der Haftbefehle).

(5) Völkerrechtlich einwandfrei sind die Haftbefehle keineswegs. Auch politisch dürften sich die Organe des IStGH keinen Gefallen getan haben. Zur effektiven internationalen Strafverfolgung wäre es wohl klüger gewesen, sich nicht in einem Antrag auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und in einem zweiten Antrag auf Kriegsverbrechen zu beschränken (der zweite Antrag wird bereits erwartet, vgl. Spiegel Online), sondern einen umfassenden Haftbefehlsantrag zu stellen, der alle bisherigen Vorwürfe und Zeiträume umfasst.

Update: Der Text ist mit leichten Änderungen vom Institut für Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum  als BOFAX Nr. 388D herausgegeben worden (Download).

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