Kurz vor der geplanten Unabhängigkeitserklärung des Südsudans ist der Streit um das Öl und dessen Export aus dem Südsudan nicht beigelegt. Die FAZ berichtet heute auf S. 1 f. davon, dass sich der zukünftige neue Staat und der Nordsudan (ab dem 9. Juli also der „Restsudan”) noch immer nicht über den Preis für die Nutzung der nordsudanesischen Pipelines einigen konnten. Der Südsudan ist darauf dringend angewiesen, um das Öl zu exportieren.

Damit ist auch eine Lösung des Konflikts um Abyei, der Region, in der das Öl zu finden ist, weit entfernt. Nordsudanesische Truppen halten das Gebiet nach wie vor besetzt.

Aus der Region Südkordofan werden Vorwürfe laut, wonach die Armee der Zentralregierung „ethnische Säuberungen“ durchführen soll. Der Erzbischof der Provinz Südkordofan, Gassis, beschuldigt die Regierung,  einen „Krieg gegen das Volk der Nuba“ zu führen. Die FAZ berichtet:

„Vor rund zehn Tagen hatte die nordsudanesische Armee dort eine Offensive gegen bewaffnete Gruppen begonnen, die im Bürgerkrieg für den Süden gekämpft haben und sich jetzt weigern, ihre Waffen abzugeben.” Hört sich so an, wie zu Beginn des Konflikts in Darfur, nur mit vertauschten Rollen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Konflikte bald beigelegt werden können.

Die Elfenbeinküste musste in den vergangenen Monaten blutige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des abgewählten Präsidenten Laurent Gbagbo und Anhängern des international anerkannten Wahlsiegers der Wahl von 2010, Alassane Ouattara, ertragen. Gbagbo ist Anfang Mai 2011 festgenommen worden. Die Kämpfer sind damit zwar nicht völlig beendet, der Machtkampf jedoch scheint entschieden.

Die neue Regierung hatte bereits angekündigt, Gbagbo möglicherweise vor ein Strafgericht zu stellen. Dass dieses Vorgehen nicht politisch motiviert ist, zeigt nun der Bericht einer Untersuchungskommission der Vereinten Nationen. Dieser kommt zu dem Schluss, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Elfenbeinküste begangen worden sein könnten (Bericht der FAZ vom 11. Juni 2011, S. 7). Der Sicherheitsrat wird den Bericht am Mittwoch, den 15. Juni, diskutieren.

Aufgrund dieser Bewertung könnte der Sicherheitsrat die Situation in der Elfenbeinküste an den Internationalen Strafgerichtshof überweisen – nach Darfur und Libyen die dritte Überweisung einer Situation in einer Nichtvertragspartei des IStGH-Statuts.

Dafür spricht, dass die Überweisung der Situation in der Elfenbeinküste bereits vorgeschlagen wurde. Gerade im März und April konnte man in der Presse solche Gerüchte lesen. Dafür spricht natürlich auch das Ergebnis des Berichts der Kommission (disclaimer: Der Bericht ist noch nicht veröffentlicht). Denn wenn wirklich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Betracht kommen, dann bietet sich der IStGH als Forum an.

Dagegen spricht allerdings der Grundsatz der Komplementarität. Denn der IStGH darf nur tätig werden, wenn und soweit nationale Strafverfolgung nicht erfolgt oder erfolg versprechend ist. Da aber die amtierende Regierung der Elfenbeinküste  bereits selbst angedeutet hat, Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten, dürfte der Sicherheitsrat auf die nationale Strafverfolgung vertrauen und die Situation nicht an den IStGH überweisen.

Die Elfenbeinküste ist nicht Vertragspartei des IStGH-Statuts, hat das Statut aber bereits 1998 unterzeichnet. Damit bleibt eine Befassung des IStGH mit der Situation auf andere Art und Weise möglich: Die Elfenbeinküste hat mit der ad-hoc-Anerkennung gemäß Art. 12 Abs. 3 IStGH-Statut die Gerichtsbarkeit des IStGH für Verbrechen auf ihrem Territorium anerkannt (Link) und damit ist es rechtlich zulässig, die post-election-violence vor ein internationales Gericht zu bringen. Diese Option betont der Sicherheitsrat in Res. 1975 (2011) vom 30. März 2011.

Vorteil dieser Variante: Die Elfenbeinküste müsste das Statut nicht ratifizieren, um eine internationale Untersuchung zu erreichen. Dem IStGH begegnet sie positiv (die noch immer bestehende Unterschrift unter dem Statut zeigt dies, auch wenn schon Gbagbos Vor-Vorgänger die Unterschrift geleistet hat) und daher ist nicht unwahrscheinlich, dass der Ankläger in der Situation Verfahren einleiten möchte. Presseberichten zufolge “vorermittelt” er bereits.

Ob der Elfenbeinküste damit geholfen ist, bleibt dahingestellt. Für eine innerstaatliche Aussöhnung mag hier der nationale Rechtsweg der sinnvollere sein, gerade auch, weil die Lage sich beruhigt hat – anders als in Darfur oder in Libyen.

Damit ist eine Sicherheitsratsüberweisung nicht erforderlich und nicht wahrscheinlich.

Der Chefankläger des IStGH hat bekannt gegeben, dass auch Vorwürfe wegen sexueller Gewalt in Libyen geprüft werden, das berichten Spiegel Online und die NZZ. Gaddafi habe nicht nur seinen Soldaten Massenvergewaltigungen befohlen, sondern darüber hinaus auch Potenzmittel an die Soldaten verteilt. Diese Vorwürfe sollen wohl Grundlage für eine zweite „Anklage” gegen Gaddafi sein (so berichtet Spiegel Online). Möglicherweise wird der Ankläger in der zweiten Anklage nicht mehr nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch Kriegsverbrechen anklagen – eine überfällige Entscheidung.

Berichtet wird weiterhin, dass der Ankläger bereits in den nächsten Tagen eine Entscheidung über den ersten Haftbefehlsantrag erwarte.

Die Darfur-Situation steht still. Derzeit befindet sich kein Verdächtiger oder Angeschuldigter in Den Haag. Vielmehr sind die per Haftbefehl gesuchten Personen noch immer auf freiem Fuß und begehen weitere Verbrechen. Am prominentesten ist der Fall al-Bashir. Der wegen des Verdachts auf Völkermord gesuchte Präsident des Sudan ist nicht nur weiter im Amt, sondern behindert die Arbeit des IStGH wo immer er nur kann. Darüber hinaus reist al-Bashir unbehelligt durch Afrika und genießt eine breite Unterstützung anderer Staatsoberhäupter.

Angeregt durch diese Missachtung des IStGH plädiert David Kaye für eine Neuausrichtung des IStGH. Kaye, Direktor des International Human Rights Programs der UCLA, nimmt die für 2012 vorgesehene Neubesetzung des Chefanklägerpostens zum Anlass, seine Sorgen über die Zukunft des IStGH zu äußern (Who´s afraid of the International Criminal Court? in: Foreign Affairs 90 [2011], S. 118 ff.). Seine Bedenken gelten nicht nur der Darfur-Situation sondern der gesamten Arbeit des IStGH: Trotz neun Jahre und fast einer Milliarde Dollar ist noch kein einziger Prozess zum Abschluss gekommen.

David Kayes Kritik

Beachtenswert sind vor allem die folgenden kritischen Aspekte in Kayes Kritik.

David Kaye vermisst eine klare Ausrichtung der Anklagebehörde auf die Strafverfolgung – ein hartes Urteil über eine Strafverfolgungsbehörde. Der derzeitige Amtsinhaber sei, so Kaye, vielmehr auf öffentlichkeitswirksame Maßnahmen aus (Haftbefehl gegen al-Bashir). Moreno Ocampos Amtszeit sei schon jetzt von „micro-managing and erratic decision-making“ gekennzeichnet. Er verstricke sich in Rangeleien um Kompetenzen mit den Kammern des Gerichtshofs; damit werden Spannungen innerhalb des IStGH deutlich, der doch eigentlich als einheitliche Front gegen Völkerstraftäter auftreten sollte.

Den Haftbefehl gegen al-Bashir hält Kaye für eine Fehlentscheidung. Nicht nur sei der Antrag nur ergangen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es wäre auch sinnvoller gewesen, zuerst einige Fälle gegen Personen auf unteren Kommandoebenen durchzuführen. Dann habe man eine breitere, gesicherte Basis um gegen höhere Befehlshaber vorzugehen. Weiterhin habe der Ankläger riskiert, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird und so zunächst die Effektivität beeinträchtigt und danach die Glaubwürdigkeit und den Ruf des IStGH aufs Spiel gesetzt wurden. Der IStGH erweisst sich, mit einigen unvollstreckten (oder unvollstreckbaren?) Haftbefehlen eben als der Papiertiger, den Befürworter der IStGH fürchten und Kritiker des IStGH herbeisehnen.

Dem Ankläger ist aber zugutezuhalten, dass al-Bashir wohl in der geheimen Liste von 51 Verdächtigen steht, die die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen schon 2005 an den IStGH übergeben hat. Kaye übersieht diesen Punkt in seiner Kritik.

Auf die Liste kommt Kaye dennoch zu sprechen; er nutzt sie als weiteren Angriffspunkt gegen Moreno-Ocampo. Kaye kritisiert, zu Recht, dass erst gegen fünf Personen Verfahren vor dem IStGH geführt werden und dass das Verfahren gegen Abu Garda im Vorverfahren eingestellt wurde (vgl. Analyse Nr. 5). Der Ankläger kennt aber seit 2005 mindestens 45 weitere Personen, gegen die ermittelt werden kann. Warum gegen diese nicht ermittelt wird, ist nicht auszumachen; es mag aber an den begrenzten Ressourcen des Gerichtshofs liegen.

Die Wirkungslosigkeit des IStGH sei aber nicht nur dem IStGH und dem Ankläger zu verdanken. Ebenso in der Pflicht sieht Kaye den Sicherheitsrat. Dieser hat die Darfur-Situation an den IStGH überwiesen und damit zumindest politisch Verantwortung übernommen – auch für die Zukunft des Verfahrens. Für eine effektive internationale Strafverfolgung ist die Hilfe des Sicherheitsrates unerlässlich: Haftbefehle könnten vollstreckt werden, wenn der Sicherheitsrat solchen Staaten mit Sanktionen drohen wurde, die die Haftbefehle des IStGH missachten und Verdächtige frei ein- und ausreisen lassen. Über die Darfur-Situation hinaus gelte dies, so Kaye, auch für alle anderen anhängigen Situationen vor dem IStGH.

Verschlechterung der Lage durch Überweisung der Libyen-Situation?

Nur zwischen den Zeilen gibt Kaye zu verstehen, dass die Überweisung der Libyen-Situation die Lage verkomplizieren wird.

Den Antrag auf den Erlass von Haftbefehlen in der Libyen-Situation hält David Kaye für einen Fehler. Nicht nur, dass der Ankläger die Situation erst ausermitteln sollte, er sollte vor allem nicht schon wieder an der Spitze der Befehlskette anfangen und Muammar al-Gaddafi vor den IStGH stellen wollen. Der IStGH sei schlicht überfordert, wenn er gegen zwei amtierende Staatsoberhäupter gleichzeitig ermittelt.

Kaye bemängelt, dass im Verfahren gegen Thomas Lubanga Dyilo verpasst wurde, die Anklage möglichst breit zu streuen und viele mögliche Punkte anzuklagen. In diesem Verfahren vermisse er vor allem Anklagepunkte wegen sexueller Gewalt und geschlechterspezifischen Verbrechen.

Die Kritik gilt, das sagt Kaye nicht, auch für den ersten Haftbefehlsantrag in der Libyen-Situation. Auf dieser Website wurde bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass in Libyen nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch Kriegsverbrechen in Betracht kommen. Der Ankläger hat seinen Antrag von Mai 2011 aber ausdrücklich nicht auf die Begehung von Kriegsverbrechen erstreckt. Warum er eine solche Beschränkung vornimmt, obwohl er inzwischen die Existenz eines bewaffneten Konflikts anerkennt, bleibt für mich unverständlich. Dank der Beschränkung muss sich die Anklage nunmehr auf den Begehungszusammenhang bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentrieren – wie die Kenia-Situation zeigt, wird dies nicht einfach werden (vgl. Analysen Nr. 9 und 10, Analyse Nr. 11 mit weiteren Ausführungen zu diesem Problem erscheint demnächst).

Was ist von der Kritik zu halten?

Was ist von der Kritik zu halten? Kaye hat in vielen Punkten Recht, so sind insb. nicht alle Schritte der Anklagebehörde nachzuvollziehen. Allerdings muss man dem IStGH anrechnen, dass er gegen viele Widerstände zu kämpfen hat und eben nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, nicht die volle Unterstützung der Staatengemeinschaft zu haben. Insbesondere der Sicherheitsrat ist immun gegen Kritik von Außen. Im Interesse der effektiven Strafverfolgung dürfte es aber liegen, sich zunächst auf low-profile Täter zu konzentrieren, bevor aufgrund auch der dort ermittelten Sachverhalte die Spitze der Befehlskette angegangen wird. Auch darf nicht vergessen werden, dass der Ankläger nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung hat um sechs Konflikte aufzuarbeiten, von denen er fünf überwiesen bekommen und sich nur eine „selbst ausgesucht“ hat. Insofern sind wohl die Staaten und der Sicherheitsrat in der Pflicht, bevor dem Ankläger die Schuld an mangelndem Erfolg gegeben werden kann.

Auf der Website von Foreign Affairs sind zwei Kurzanalysen erschienen, die sehr empfehlenswert sind. Zum einen berichtet Andrew Natsios, ehemaliger US-amerikanischer Sonderbeauftragter für den Sudan, von der aktuellen Lage im (Süd-)Sudan und wie der Konflikt dort den Konflikt in Libyen beeinflussen kann. Natsios zufolge könnte Omar al-Bashir sich auf die Seite der Gegner von Gaddafi schlagen und so zum wirklich unwillkommenen Verbündeten der NATO werden.

Zum anderen gibt sich David Kaye pessimistisch, was den Erfolg der ersten drei möglichen Haftbefehle in der Libyen-Situation angeht (mehr dazu in Analysen Nr. 10 und 11 in der Datenbank).

Nach seiner Festnahme am gestrigen Donnerstag wird Ratko Mladic nun bald an das ICTY in Den Haag ausgeliefert (Bericht auf Spiegel Online). Damit kommt das Jugoslawientribunal seinem Ziel, alle Verfahren zu einem Abschluss zu bringen, einen kleinen Schritt weiter.

Update 31.5.: Ratko Mladic ist nach dem Scheitern seines Eilantrages an das ICTY in Den Haag überstellt worden (Bericht auf Spiegel Online).

Die Analysen Nr. 9 und 10, jeweils zu der Libyen-Situation vor dem IStGH, sind nunmehr nicht mehr nur als Download verfügbar, sondern können hier und hier online kommentiert und diskutiert werden.

Die Analyse Nr. 5, die sich mit dem Verfahren gegen Abu Garda in der Darfur-Situation befasst, steht in der Datenbank zum Download bereit und kann hier online kommentiert und diskutiert werden.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag hat dem Wunsch des Sicherheitsrates entsprochen und seinen ersten Bericht in der Libyen-Situation vorgelegt. Darin hat er seine Ermittlungstätigkeit näher beschrieben und angekündigt, den Erlass von drei Haftbefehlen zu beantragen.

Grundlage des Berichts

1      Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) existiert und arbeitet unabhängig von den Vereinten Nationen (VN). Als selbstständiges Völkerrechtssubjekt ist er nicht an die Beschlüsse andere Organisationen gebunden. Dies gilt selbst für Sicherheitsratsresolutionen nach Kapitel VII der VN-Charta (VNCh). Auch diese können den IStGH nur dann binden, wenn das IStGH-Statut dies vorsieht.

2      An keiner Stelle sieht das Statut eine Berichtspflicht des Anklägers gegenüber dem Sicherheitsrat vor. Daher fordert der Sicherheitsrat den Ankläger auch nicht auf, sondern « lädt ihn ein » (Res. 1970 [2011]) , regelmäßig Bericht zu erstatten. Diese Einladung nimmt der Ankläger an und berichtet dem Sicherheitsrat in seinem ersten Bericht von Mai 2011 über die ersten zwei Monate der Ermittlungen.

Die Lage in Libyen als Situation im Sinne des Art. 13 lit. b) IStGH-Statut: Die Probleme der Komplementarität und Verbrechensschwere

3      Der Ankläger betont, dass die Kriterien der Jurisdiktion, Komplementarität und Schwere der Vorwürfe erfüllt seien und damit die Ermittlung durch den IStGH auslösen (zur Jurisdiktion s. R. Frau, Sicherheitsratsresolution 1970 [2011] – Rechtsgrundlage für Ermittlungen in Libyen, DarfurSituation.org Analyse Nr. 9, 2011).

4      Komplementarität: Der IStGH darf nur tätig werden, wenn innerstaatliche Strafverfolgung nicht erfolgt oder nicht erfolgversprechend ist, Art. 17 IStGH-Statut. Die angeblichen libyschen Strafverfolgungsmaßnahmen durch eine nationale Kommission finden nach den Erkenntnissen des Anklägers nicht statt.

5      Damit existiert keine Strafverfolgung, die den IStGH an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit hindert.

6      Zur Schwere der Verbrechen stellt der Ankläger fest, dass allein die Überweisung durch den Sicherheitsrat eine solche Schwere nahelege. Das erscheint wie ein Taschenspielertrick, ist aber durchaus berechtigt. Der Sicherheitsrat ist nicht als Organ bekannt, das vorschnell handelt und „leichtere“ Konflikte mit Maßnahmen nach Kapitel VII VNCh behandelt. Die vielgescholtene politische Zusammensetzung des Sicherheitsrates sorgt hier für eine Vorauswahl nur der schwersten Situationen.

7      Anhaltspunkte findet der Ankläger weiterhin in der Anzahl der getöteten Personen. Der Ankläger hält die Zahl von 500 bis 700 getöteten Personen für realistisch, während der Nationale Übergangsrat, die bekannteste Organisation der Rebellen, von mehr als 10.000 Toten spricht und die libysche Regierung von nicht mehr als 200 Toten ausgeht.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

8      Diese Unsicherheiten bezüglich der Tatsachenlage stellen ein Problem bei der Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Dies bedarf einer genaueren Erläuterung.

9      Leitgedanke der Sicherheitsratsüberweisung war es, die in Libyen stattfindenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu ahnden (vgl. Erwägungsgrund 6 der Präambel Res. 1970 [2011]). Der Ankläger hält den Verdacht auf diese Verbrechen für begründet, insb. Vorwürfe wegen vorsätzlicher Tötung (Art. 7 Abs. 1 lit. a] IStGH-Statut), Freiheitsentzug (Art. 7 Abs. 1 lit. e] IStGH-Statut), Folter (Art. 7 Abs. 1 lit. f] IStGH-Statut) und Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft (Art. 7 Abs. 1 lit. h] IStGH-Statut).

10   Der Ankläger betont, dass er für jeden Vorfall mindestens zwei Augenzeugen habe, deren Zeugnis durch Dokumente oder Foto- und Filmbeweise gestützt werde.

11    Problematisch ist aber nicht so sehr die Frage, ob wirklich Menschen getötet wurden, sondern ein rechtlicher Aspekt. Das Statut bestimmt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur dann vorliegen, wenn eine Handlung im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wurde (Chapeau des Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut).

12    In der Kenia-Situation, die eine ähnliche, weil plötzliche, Gewalteskalation zwischen Regierung und Protestierenden zum Gegenstand hat, kann der Richter Hans-Peter Kaul einen solchen ausgedehnten oder systematischen Angriff nicht erkennen.

13    In seinem Bericht in der Libyen-Situation legt der Ankläger daher Wert darauf, dass sich alle Vorfälle ähnelten und so für einen systematischen Angriff sprechen würden. Allerdings bleibt dies doch noch etwas im Vagen, da der Ankläger zumindest in dem Bericht weitere Anhaltspunkte für eine Systematik schuldig bleibt.

Die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts

14    Der Ankläger geht von der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts aus. Dies ist nur der Fall, wenn ein internationaler oder ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt.

15    Seit geraumer Zeit liegt ein nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der libyschen Regierung und den Rebellen vor.

16    Der Ankläger geht in seinem Bericht davon aus, dass dieser nicht-internationale bewaffnete Konflikt seit Ende Februar 2011 vorliegt. Leider konkretisiert er den Beginn nicht – weder knüpft er an einen genauen Zeitpunkt noch an ein Ereignis an. Ihm ist allerdings zuzustimmen, dass gegen Ende Februar von einem solchen Konflikt ausgegangen werden muss (vgl. R. Frau, Sicherheitsratsresolution 1970 [2011] – Rechtsgrundlage für Ermittlungen in Libyen, DarfurSituation.org Analyse Nr. 9, 2011, Rn. 10 ff.).

17   Etwas verwunderlich sind einige Stellungnahmen des Anklägers zu diesem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. So spricht der Ankläger häufiger von der Tötung von Kombatanten und angeblichen Kriegsgefangenen. Das Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts kennt beide Kategorien jedoch nicht. Die Anklagebehörde muss daher in Zukunft etwas sorgfältiger mit den Begrifflichkeiten umgehen.

18    Parallel zu diesem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt liegt ein internationaler bewaffneter Konflikt zwischen der libyschen Regierung und den Staaten, die von der Ermächtigung der Res. 1973 (2011) Gebrauch machen, vor.

Mögliche Kriegsverbrechen…

19    In beiden Konflikten können Kriegsverbrechen begangen werden; dies hält der Ankläger nunmehr ausdrücklich für möglich, nachdem er zu Beginn der Ermittlungen dies noch nicht in Betracht gezogen hatte. Die Entscheidung des Anklägers ist in dieser Hinsicht zu begrüßen.

20   Der Ankläger identifiziert hier allerdings nur Kriegsverbrechen in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Von einem Verdacht auf Kriegsverbrechen in dem internationalen bewaffneten Konflikt spricht er nicht. Dies liegt schlicht daran, dass die Verbrechen eben in dem Bürgerkrieg begangen werden und es keine Anhaltspunkte für Verbrechen in dem internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Libyen und der Staatengemeinschaft gibt – gleichgültig, ob von Seiten Libyens oder von Seiten der Staatengemeinschaft.

…und deren Spannungsverhältnis zu der Gerichtsbarkeitsausnahme

21    Allerdings wird die Gerichtsbarkeitsausnahme, die durch Res. 1970 (2011) geschaffen wurde, zu den Kriegsverbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt in einem Spannungsverhältnis stehen.

22    In Abs. 6 Res. 1970 (2011) nimmt der Sicherheitsrat Angehörige von Staaten, die nicht Vertragspartei des IStGH-Statuts sind, von der Gerichtsbarkeit des IStGH aus. Dieser Ausschluss ist völkerrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. R. Frau, Sicherheitsratsresolution 1970 [2011] – Rechtsgrundlage für Ermittlungen in Libyen, DarfurSituation.org Analyse Nr. 9, 2011, Rn. 9). In der Diskussion über den Bericht haben etliche Sicherheitsratsmitglieder erneut betont, wie wichtig ihnen diese Gerichtsbarkeitausnahme ist. Diese Ausnahme reicht dem Wortlaut nach aber nur soweit, wie der Sicherheitsrat zu Maßnahmen in Libyen ermächtigt. Allerdings hat der Sicherheitsrat den Staaten mit Res. 1973 (2011) einen sehr weitreichenden Handlungsspielraum zugestanden.

23    Warum steht diese Ausnahme nun in einem Spannungsverhältnis zu den Kriegsverbrechen?

In Libyen liegt ein internationaler bewaffneter Konflikt vor. In diesem können nicht nur libysche Soldaten, sondern auch Angehörige der ausländischen Streitkräfte Verbrechen begehen. Durch die Ausnahme ist der IStGH aber u. U. daran gehindert (oder genauer: erst gar nicht dazu befugt) diese Handlungen einer strafrechtlichen Prüfung zu unterziehen.

Damit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen libyschen Streitkräften und Angehörigen der Streikträfte einer IStGH-Vertragspartei einerseits und Drittstaatsangehörigen andererseits.

24    Es ist völkerrechtlich zulässig, die Gerichtsbarkeit des IStGH am Kriterium der Staatsangehörigkeit festzumachen; die Gerichtsbarkeit also zu eröffnen oder eben auszuschließen.

25    Der IStGH hat grundsätzlich keine Rechtsmacht über Drittstaatsangehörige. Erst die Kapitel-VII-Resolution des Sicherheitsrates begründet die völkerrechtliche Kompetenz, Drittstaatsangehörige auf dem Territorium eines Drittstaates strafrechtlich zu verfolgen. Der Sicherheitsrat hat bei der Auswahl seiner Maßnahmen, hier der Überweisung an den IStGH, einen sehr weiten Ermessenspielraum, den er im Falle Libyens einwandfrei genutzt hat.

26    Das Spannungsverhältnis erweist sich damit als rein politisch. Dennoch ist es nicht ohne Auswirkung auf die Arbeit des IStGH. Es steht zu befürchten, dass die Einstellung bzw. Nichtaufnahme eines Verfahrens gegen bspw. US-amerikanische Bomberpiloten erneut Diskussionen über die Legitimität des IStGH hervorrufen wird. Die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des IStGH werden in einem solchen Fall durch eine breite Öffentlichkeit wohl angezweifelt werden – auch wenn der IStGH in diesem Fall rechtlich gar nicht hätte anders handeln dürfen.

Die möglichen Verdächtigen

27   Der Ankläger spricht davon, nur die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu wollen, auch wenn er die derzeitig Verdächtigen namentlich nicht genannt hat. Zu dem Kreis der Hauptverantwortlichen gehörten vor allem die Personen, die  die identifizierten Vorkommnisse angeordnet, dazu angestiftet, diese finanziert oder geplant haben. Ob der Ankläger auch einen Haftbefehl gegen Muammar al-Gaddafi beantragen wird, bleibt abzuwarten.

28    Der Ankläger geht allerdings nicht davon aus, dass nur die regulären libyschen Streitkräfte und die Regierung Verbrechen begangen haben – auch auf Seiten der Rebellen sei es bereits zu Verbrechen gekommen. Er verweist auf das Lynchen einiger „sub-saharischer Afrikaner“, die angeblich Söldner des Gaddafi-Regimes gewesen seien, durch einen Mob. Zwar ist selbstverständlich, dass der Ankläger allen Vorwürfen nachgeht. Doch sei es hier besonders betont, verdeutlicht dies doch die Unabhängigkeit der Untersuchungen von politischen Motiven. Es ist daher zu begrüßen.

29    Unwahrscheinlich ist es, dass Staatsangehörige fremder Staaten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, dazu fehlt es wohl an einem ausgedehnten oder systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung. Die Frage nach Kriegsverbechen durch ausländische Staatsangehörige bleibt dahingestellt.

Das zukünftige Vorgehen

30   Der Ankläger wird demnächst Haftbefehle beantragen. Die Entscheidung darüber obliegt der Vorverfahrenskammer I. Der Ankläger zeigt sich zuversichtlich, dass diese auch ausgestellt werden und stellt in Aussicht, weitere Verfahren zu eröffnen.

Kooperationspflichten

31    Die Regierung Libyens ist verpflichtet, die Durchsetzung der Haftbefehle sicherzustellen. Sollten die Haftbefehle gegen Mitglieder der Regierung erlassen werden, so darf damit allerdings nicht gerechnet werden.

32    Die Rebellen in Libyen haben laut Aussagen des Anklägers bereits angekündigt, mit dem IStGH zu kooperieren und etwaige Haftbefehle zu vollstrecken. Abgesehen davon, ob die Rebellen tatsächlich in der Lage sind, Verhaftungen vorzunehmen und die verhafteten Personen an den IStGH zu überstellen, und ob dies rechtlich zulässig wäre, muss wohl bezweifelt werden, dass eigene Mitkämpfer ausgeliefert werden.

33    Der Ankläger gibt zu verstehen, dass die Pflicht, den Haftbefehlen Folge zu leisten, sich nicht auf Libyen beschränkt: Res. 1970 (2011) verpflichtet die Vertragsparteien des IStGH-Statuts dazu, mit dem IStGH zu kooperieren, also die Haftbefehle durchzusetzen. Damit spielt der Ankläger auf die mangelden Kooperation einiger afrikanischer Vertragsparteien an – bis heute reist Omar al-Bashir, der mit Haftbefehl gesuchte Präsident des Sudan, unbehelligt in zahlreiche Staaten, die das IStGH-Statut ratifiziert haben. Damit brechen diese Staaten ihre vertraglichen Verpflichtungen (vgl. R. Frau, Der Sudan verweigert die Zusammenarbeit im Fall Harun / Ali Kushayb, DarfurSituation.org Analyse Nr. 6, 2010; R. Frau, Trotz Haftbefehls: Omar al-Bashir auf Staatsbesuch – Zur Kooperationspflicht einiger Staaten, DarfurSituation.org Analyse Nr.7, 2010).

Ergebnis

34    Der Bericht des Anklägers ist zu begrüßen. Vor allem die Tatsache, dass der Ankläger sich nicht mehr nur auf den Vorwurf von Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentriert, sondern auch Kriegsverbrechen in Betracht zieht, spricht für eine umfassende Untersuchung durch den Ankläger. Allerdings bedarf es dort eines besseren und „saubereren“ Vorgehens. Zu begrüßen ist, dass der Ankläger schnell arbeitet und bereits erste Haftbefehle beantragen wird.

Zum Download der Analyse

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Situation in Libyen 2011 an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überwiesen. Der Sicherheitsrat orientiert sich an der Überweisungsresolution im Falle Darfurs. Die Überweisungsresolution für die Situation in Libyen wirft einige neue Rechtsfragen auf. Im Ergebnis ist die Resolution 1970 (2011) dennoch rechtmäßig. Nunmehr ist der IStGH zur strafrechtlichen Aufarbeitung der Proteste in Libyen zuständig.

Die Lage in Libyen: Gefahr für den Weltfrieden oder rein innerstaatliche Angelegenheit?

1      Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann eine Überweisungsresolution an den IStGH nur im Rahmen des siebten Kapitels der Charta der Vereinten Nationen (VNCh) beschliessen. Erforderlich für ein solches Handeln ist, dass eine Gefährdung oder ein Bruch des Weltfriedens oder eine Angriffshandlung festgestellt wird, Art. 39 VNCh. Die Bewertung der Tatsachen, also die Frage, ob eine Gefährdung des Weltfriedens vorliegt, obliegt allein dem Sicherheitsrat, er hat einen weitreichenden Beurteilungsspielraum. Regelmäßig geschieht dies durch die Formulierung „determining that the situation in X constitutes a threat to international peace and security“. Problematisch ist, dass der Sicherheitsrat in Resolution 1970 (2011)  eine solche ausdrückliche Feststellung nicht trifft.

2      In der Wissenschaft wird verschiedentlich eine Pflicht zur ausdrücklichen Feststellung gefordert. Begründet wird dies damit, dass Art. 39 VNCh eine solche Verpflichtung wohl vorsehe und das es Sinn und Zweck einer solchen Feststellung sei, den Staaten deutlich aufzuzeigen, dass es sich um eine Resolution nach Kapitel VII VNCh handelt, die zu befolgen ist.

3      Eine Wortlautauslegung der verschiedenen Sprachfassungen der Charta, wie sie nach Art. 111 Satz 1 VNCh und Art. 33 Abs. 1 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge von 1969 (WÜV) erforderlich ist, beantwortet die Frage einer Pflicht zur ausdrücklichen Feststellung nicht.

4      Eine teleologische Auslegung führt aber zu einem Ergebnis. Sinn und Zweck der Charta und insb. Art. 39 VNCh ist es nämlich, dass sich der Sicherheitsrat bewusst wird, im Rahmen von Kapitel VII VNCh zu handeln, dies den Staaten deutlich gemacht wird, damit diese um ihre Verpflichtung nach Art. 25 VNCh wissen und ein effektives Handeln des Sicherheitsrates zu ermöglichen.

5      Allerdings werden diese Ziele nicht nur durch eine ausdrückliche Feststellung erreicht – immerhin besteht Einigkeit, das auch kein ausdrücklicher Verweis auf Art. 39 VNCh erforderlich ist -, sondern auch dadurch, dass der Sicherheitsrat ausdrücklich erwähnt, dass er unter Kapitel VII VNCh tätig wird. In der Praxis betont der Sicherheitsrat: „Acting under Chapter VII of the Charter of the United Nations.“ In Res. 1970 (2011) fehlt zwar die Feststellung, dass eine Gefährdung des Weltfriedens vorliegt, die Feststellung, dass es sich um eine Maßnahme nach Kapitel VII VNCh handelt, wird aber getroffen.

6      Diese Feststellung allein ist nicht ausreichend. Vielmehr ist mit Andreas Zimmermann zu fordern, dass in einem solchen Fall objektiv eine Lage vorliegt, die als Gefährdung des Weltfriedens angesehen werden kann. Andernfalls wären die Voraussetzungen, die Art. 39 VNCh erfordert, nämlich dass eine solche Gefahr vorliegt, überflüssig.

7      Die Lage in Libyen stellt eine Gefährdung des Weltfriedens dar.

(a) Tausende Libyer fliehen in die Nachbarstaaten. Solche Flüchtlingsströme gelten als das klassische Beispiel von spill-over-Effekten, die aus einem rein internen Konflikt eine Gefahr für die internationale Gemeinschaft machen.

(b) In Libyen finden schwere Menschenrechtsverletzungen und wohl auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit statt. Diese sind nach dem Völkerrecht verboten. Damit ist die domaine réservé Libyens nicht berührt, es handelt sich gerade nicht um eine rein innerstaatliche Angelegenheit ohne Berührung des Völkerrechts.

Sowohl auf die Flüchtlingsströme als auch auf die schweren Menschenrechtsverletzungen nimmt der Sicherheitsrat ausdrücklich Bezug; in allen bisherigen Libyen-Resolutionen des Jahres 2011 äußert er seine Besorgnis über die Vorfälle.

(c) Die Lage in Libyen ist ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt, m. a. W. ein Bürgerkrieg (Rn. 10 ff.). In solchen nicht-internationalen bewaffneten Konflikten gilt das humanitäre Völkerrecht. Auch damit handelt sich nicht mehr um eine rein innerstaatliche Angelegenheit ohne Berührung des Völkerrechts. Da spill-over-Effekte vorliegen, kann dahingestellt bleiben, ob das bloße Vorliegen eine völkerrechtlich geregelten Lage (des Bürgerkrieges) eine Friedensbedrohung darstellt.

(d) Derzeit finden in zahlreichen Staaten der Region Proteste statt. Der Jahresbeginn 2011 ist geprägt von teilweise gewalttätigen Demonstrationen der Bevölkerungen gegen ihre Regierungen und politischen Systeme. Unabhängig davon, ob die Demonstranten demokratische Reformen anstreben oder wie groß der Anteil der Bevölkerung an den Demonstranten ist, kann die Protestwelle in mehreren Staaten nicht ignoriert werden. Der Sicherheitsrat kann sich damit auf die politische Großwetterlage berufen, um ein erfolgreiches Vorbild Gaddafi zu verhindern.

8      Damit sind die Handlungsvoraussetzungen aus Art. 39 VNCh erfüllt, der Sicherheitsrat hat die Situation in Libyen in rechtlich nicht zu beanstandender Weise an den IStGH überweisen.

Einschränkung der Gerichtsbarkeit ratione personae

9      Wie schon in der Überweisung der Darfur-Situation an den IStGH nimmt der Sicherheitsrat bestimmte Personen von der Gerichtsbarkeit des IStGH aus. Es handelt sich vor allem um Angehörigen von Staaten, die nicht Vertragspartei des IStGH-Statuts sind. Da der IStGH aber nur aufgrund einer Resolution des Sicherheitsrat über Taten in Libyen, einer Nichtvertragspartei, tätig werden darf, und der Sicherheitsrat nur wenigen Beschränkungen in seiner Maßnahmenauswahl unterliegt, ist die Gerichtsbarkeitsausnahme rechtlich zulässig (vgl. R. Frau, Sicherheitsratsresolution 1593 [2005] – Wirksame völkerrechtliche Grundlage für Maßnahmen des IStGH im Darfur-Konflikt, DarfurSituation.org Analyse Nr. 1, 2010, Rn. 9 ff.).

Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts

10   Der Sicherheitsrat erinnert die libysche Regierung daran, dass sie ihren Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht nachkommen muss. Er geht damit von einer Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts in Libyen aus. Anwendbar ist das humanitäre Völkerrecht nur in bewaffneten Konflikten.

11    Ob ein solcher vorliegt, ist nicht ohne weiteres auszumachen. Der Konflikt zwischen der libyschen Regierung und den Rebellen könnte ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt sein. Was genau darunter zu verstehen ist, ist fraglich: Die verschiedenen vertragsrechtlichen Definitionen unterscheiden sich, ebenso wie die gewohnheitsrechtlichen Maßstäbe. Das Zweite Zusatzprotokoll der Genfer Abkommen, dessen Vertragspartei Libyen ist, ist nach dem restriktiven Art. 1 Abs. 1 anwendbar in allen bewaffneten Konflikten „die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen.“ Auf „Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen“ findet das Protokoll gemäß Art. 1 Abs. 2 keine Anwendung.

12    Die Schwelle zum nicht-internationalen bewaffneten Konflikt ist in jedem Fall dann überschritten, wenn die Aufständischen Teile des Staatsgebietes kontrollieren und Gewalt einer bestimmten Intensität eingesetzt wird.

13    Der Beginn der Proteste muss daher als Fall innerer Unruhe angesehen werden. Dies hat sich erst durch die zunehmende Gewalt geändert. Aufgrund der unklaren Tatsachenlage ist es an dieser Stelle allerdings unmöglich, einen genauen Beginn zu bestimmen. Der Beginn der Aufstände, ohne Gewalt von Seiten der Rebellen, ist nicht der Beginn des internen Konflikts. Auch die Gründung des Nationalen Übergangsrates ist nur als rein symbolische Handlung zu sehen. Sinnvoll und vertretbar hingegen ist es, den Bürgerkrieg mit der ersten Einnahme einer Stadt durch die Rebellen beginnen zu lassen, nämlich Brega am 25. Februar 2011. Zu diesem Zeitpunkt setzen die Rebellen erhöhte Gewalt ein und kontrollieren einen Teil des Staatsgebietes. Dieses spricht auch für eine Organisation der Rebellen, selbst wenn diese nur rudimentär sein sollte.

14    Der Sicherheitsrat hat mit Res. 1973 (2011) die Staaten dazu ermächtigt, militärische Gewalt gegen Libyen einzusetzen. Die Staaten fliegen Luftangriffe, somit wird zwischen zwei Völkerrechtssubjekten Gewalt einer gewissen Intensität eingesetzt: dies zieht einen internationalen bewaffneten Konflikt nach sich.

15    Beide Konflikte finden parallel statt. Es kann zu einer Verschmelzung zu einem einzigen internationalen bewaffneten Konflikt kommen, wenn die Staaten auf Seiten der Rebellen, also als deren Ersatzluftstreitmacht, in den internen Konflikt eingreifen.

Begehung von Kriegsverbrechen und strafrechtlicher Maßstab

16    Sowohl in einem nicht-internationalen als auch in einem internationalen bewaffneten Konflikt können Kriegsverbrechen begangen werden. Dies übersieht der Sicherheitsrat, wenn er seiner Sorge über mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit Ausdruck verleiht und nicht auf mögliche Kriegsverbrechen eingeht.

17   Für den Zeitraum vom 15.2. (Beginn des Überweisungszeitraums) bis zum 26.2.2011 (Erlass der Überweisungsresolution) ist Maßstab für die strafrechtliche Bewertung allein die jeweils gewohnheitsrechtliche Ausprägung. Denn zöge man den Katalog von Kriegsverbrechen in Artikel 8 Absatz 2 IStGH-Statut heran, dann verstieße dies gegen den Grundsatz des nullum crimen sine lege aus Art. 22 f. IStGH-Statut. Libysche Staatsangehörige mussten ihr Verhalten vor der Überweisungsresolution nicht an dem IStGH-Statut, sondern am Gewohnheitsrecht ausrichten, an diesem Maßstab müssen sie sich daher im Nachhinein messen lassen.

18    Dies mag politisch unerwünscht sein, rechtlich ergeben sich jedoch keine Strafbarkeitslücken. Denn auch das Gewohnheitsrecht sieht Straftatbestände für Kriegsverbrechen vor, unabhängig ob es sich um einen internationalen oder nicht-internationalen Konflikt handelt. Der gewohnheitsrechtliche Maßstab dürfte flexibler sein, da er einen weit gefassten Tatbestand vorsieht, anders als der ausführliche – und damit beschränkte –  Katalog des Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut.

19    Der Zeitraum seit der Sicherheitsratsüberweisung, also seit dem 26.2.2011 ist dagegen anders zu beurteilen. Nimmt man eine Legislativkompetenz des Sicherheitsrat an, die sich auch auf die Schaffung von völkerstrafrechtlichen Tatbeständen bezöge, dann hat der Sicherheitsrat durch die Überweisung auf das Statut verwiesen und damit den Straftatenkatalog erweitert. Für den Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2011 und dem 26. Februar 2011 bleibt es auch nach dieser Auffassung beim Gewohnheitsrecht, denn sowohl der Sicherheitsrat als auch die Organe des IStGH sind an das Rückwirkungsverbot gebunden.

Immunitäten

20   Völkerstrafrechtliche Strafverfolgung setzt auf der Makroebene, den Regierungschefs und ihrem Umfeld, an. Beliebte Verteidigungstrategie der Verdächtigen ist es, sich auf Immunitäten zu berufen. Solche Immunitäten sind nach Art. 27 Abs. 1 IStGH-Statut allerdings nicht zu berücksichtigen. Aber dieser vertragsrechtliche Ausschluss gilt gerade nicht für die Nichtvertragspartei Libyen. Auch hier gelten, analog zur Begründung des strafrechtlichen Maßstabs, nur die gewohnheitsrechtlichen Ausnahmen der Immunität.

21    Auch Gaddafi selbst kann keine Immunität in Anspruch nehmen. Am einfachsten kann dies durch Äußerungen von Gaddafi begründet werden, er nimmt für sich in Anspruch, kein Staatsamt zu bekleiden sondern nur Revolutionsführer zu sein.

22    Darüber hinaus geht die herrschende Meinung davon aus, dass Immunitäten und folglich auch Ausnahmen von diesen Immunitäten weit gefasst sind. Anknüpfungspunkte sind damit nicht ausschließlich amtliche Eigenschaften, sondern auch de-facto-Positionen. Im Falle Gaddafis ist deutlich, dass er das de-facto-Staatsoberhaupt oder der de-facto-Regierungschef ist: fremde Staatsoberhäupter und Regierungschefs treffen sich mit ihm, nicht mit dem formellen Staatsoberhaupt und Sekretär des Allgemeinen Volkskongresses, Mohamed Abu Qasm Zwai, oder dem formellen Regierungschef Al-Baghdadi Ali Al-Mahmudi, dem Generalsekretär des Allgemeinen Volkskomitees. Davon geht auch das deutsche Bundesregierung aus, die Gaddafi auf den Internetseiten des Auswärtigen Amtes als de-facto-Staatsoberhaupt bezeichnet.

Kooperationspflichten Libyens

23    Libyen ist weder Vertragspartei des IStGH-Statuts noch hat es Statut unterschrieben, so dass auch das Frustrationsverbot aus Art. 18 WÜV nicht einschlägig ist. Dennoch wird für diese Situation Libyen wie eine Vertragspartei behandelt, es ist nach dem Teil 9 des Statuts zur vollständigen Kooperation mit dem IStGH verpflichtet. Dies gilt, weil der Sicherheitsrat sich das gesamte Statut zu Eigen macht und implizit auf das gesamte Statut verweist, Ausnahmen oder Einschränkungen macht er weder ausdrücklich noch implizit.

Ankündigung des IStGH-Chefanklägers

24    Bereits nach wenigen Tagen hat der Chefankläger des IStGH angekündigt, Ermittlungen einzuleiten. Die Anklagebehörde wird sich zunächst auf Vorwürfe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentrieren, die von Muammar al-Gaddafi und seinen engsten Vertrauten begangen worden sein sollen. Dies ist aus drei Gründen anmerkenswert.

25    Erstens hat der Chefankläger damit einen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt. Bisher hat er durchschnittlich wenige Monate gebraucht, um einen solchen Entschluss zu fassen. Meistens handelte es sich dabei um Situationen, in denen die Gewalt ein viel größeres Ausmaß hatte, als in Libyen. Auch wenn die Schnelligkeit aus rechtsstaalicher Sicht zu begrüßen ist, bleibt rätselhaft, warum der Ankläger diesmal so zügig entschieden hat.

26    Zweitens übersieht der Ankläger, dass in Libyen nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch Kriegsverbrechen begangen werden können. Er wird seine Einschätzung in Zukunft korrigieren müssen (Rn. 10 ff.).

27   Der IStGH hat mit der Kenia-Situation eine Situation vorzuliegen, die, ähnlich wie die Situation in Libyen, nicht durch langandauernde Konflikte zwischen mehr oder weniger deutlich erkennbaren Gruppen gekennzeichnet ist, sondern in der Teile der Bevölkerung gegen die Regierungen kämpfen und die Gewalt innerhalb von wenigen Tagen auf beiden Seiten regelrecht explodiert ist. Der IStGH geht in Kenia dem Verdacht auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach. Innerhalb der Vorverfahrenskammer II ist allerdings umstritten, ob die „post-election-violence“ in Kenia wirklich das Kriterium erfüllt, dass Handlungen „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ durchgeführt werden. So kann Richter Kaul keine nationale Organisation erkennen, die hinter den Gewalttaten steht. Ob dies auch im Falle Libyen problematisiert wird, bleibt abzuwarten, ist aber eher zweifelhaft – in Libyen handelt gerade die Zentralregierung und Richter Kaul ist kein Mitglied der Vorverfahrenskammer I, die für die Libyen-Situation zuständig ist.

Ergebnis

28    Die Resolution 1970 (2011) ist, wie schon ihr Vorbild Resolution 1593 (2005) rechtmäßig. Der IStGH hat nunmehr die völkerrechtliche Grundlage, Ermittlungen und Strafverfahren durchzuführen. Allerdings zeigt sich, dass der Sicherheitsrat und der Chefankläger nicht alle Aspekte ausreichend berücksichtigt haben und die Behandlung der libyschen Situation weiteren Entwicklungen unterliegen wird.

Zum Download der Analyse

Erscheint demnächst!