In der aktuellen Ausgabe des Archivs für Völkerrecht ist ein Aufsatz von mir zur Überweisung der Lage in Libyen an den IStGH erschienen (Die Überweisung der Lage in Libyen an den Internationalen Strafgerichtshof durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – zugleich ein Beitrag zur Völkerstrafrechtspraxis des Sicherheitsrates, S. 276-309).

Angeblich soll den Personen, die Muammar al-Gaddafi getötet haben, der Prozess in Libyen gemacht werden, das berichtet Spiegel Online. Saif-al-Islam, der mit einem Haftbefehl des IStGH gesuchte Sohn des toten Diktators, soll sich angeblich stellen wollen (ebenfalls Spiegel Online).

Beides wäre zu begrüßen. Saif-al-Islam gehört vor den IStGH. Das ist nach dem Haftbefehl eindeutig.

Nachdem die Übergangsregierung sich zunächst geweigert hatte, den Tod Muammar al-Gaddafi zu untersuchen, scheinen sich jetzt rechtsstaatliche Überzeugungen durchgesetzt zu haben. Der Tod Gaddafis war allem Anschein nach ein Kriegsverbrechen (hier). Ein solches gehört untersucht. Berechtigt dazu ist in erster Linie der Tatortstaat, also Libyen selbst. Die libyschen Strafverfolgungsbehörden haben, soweit sie noch existieren, jede Kompetenz, den Tod strafrechtlich aufzuarbeiten. Allerdings ist durch die Überweisung der Situation an den IStGH (vgl. Analyse Nr. 9) auch Den Haag zur Strafverfolgung berechtigt. Dies gilt nicht nur für die Taten des Gaddafi-Regimes, sondern auch für Verbrechen von Seiten der Rebellen. Und ein solches Verbrechen scheint allem Anschein nach der Tod Muammar al-Gaddafi zu sein.

Ebenso darf auch Den Haag aufklären, was hinter anderen Vorfällen steckt, die von einer rechtswidrigen Kriegführung der Rebellen zeugen sollen (vgl. den Bericht von Human Rights Watch über 53 Tote in einem Hotel).

Dabei gilt: Den Haag ist nur zur Strafverfolgung berechtigt, soweit nationale Strafverfolgungsbehörden nicht willens oder nicht in der Lage sind, ein rechtsstaatliches Verfahren durchzuführen. Dieser so genannte Grundsatz der Komplementarität ist ein Grundpfeiler der Strafjustiz des IStGH.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat sich gestern (erneut) dazu bereit erklärt, das Flugverbot über Libyen aufzuheben (Pressemitteilung über die Sitzung). Die Mitglieder möchten eine offizielle Bitte der libyschen Regierung abwarten und erst dann entscheiden, ob Ende Oktober das Flugverbot fällt. Ähnliches soll für die Autorisierung zu militärischen Maßnahmen gelten.

In der Res. 2009 (2011) von Mitte September war noch in Aussicht gestellt worden, diese Maßnahmen Ende des Jahres aufzuheben. Da das Gaddafi-Regime wohl endgültig beseitigt ist, besteht aber wohl kein Bedarf mehr nach diesen weitreichenden Maßnahmen.

Laut Spiegel Online ist die Aufhebung der Flugverbotszone bereits beschlossen worden. Leider gibt die Meldung keine Resolutionsnummer an und auf der Sicherehitsratshomepage ist bislang kein entsprechender Beschluss vorhanden. Vielleicht haben sich die Verfasser nur geirrt?

Update 1.11.: Der Sicherheitsrat hat die Maßnahmen gegen Libyen mit Res. 2016 (2011) am 27. Oktober aufgehoben. Eine genauere Analyse folgt.

Die Resolution 2009 (2011) des Sicherheitsrates vom 16. September 2011 hebt einige der Maßnahmen gegen Libyen auf. Nicht aufgehoben ist die Ermächtigung, mit militärischen Mitteln den Schutz der Zivilbevölkerung zu erreichen. Dies verwundert.

Nunmehr meldet Spiegel Online dass die libysche Übergangsregierung die NATO offiziell darum gebeten habe, den Militäreinsatz bis Ende des Jahres fortzuführen.

Ende des Jahres muss der Sicherheitsrat erneut über die Maßnahmen gegen Libyen abstimmen, so sieht es die Res. 2009 (2011) vor.

Die Frage der Fortführung des Militäreinsatzes ist in erster Linie eine politische. Eine völkerrechtliche Frage ist es jedoch, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 39 VNCh noch vorliegen. Daran kann wohl nach dem Tode Muammar al-Gaddafis und dem endgültigen Zusammenbruch des Gaddafi-Regimes gezweifelt werden.

Alle Medien berichten heute über den Tod Muammar al-Gaddafis, der vom libyschen nationalen Übergangsrat gemeldet wurde. In arabischen Medien sollen eindeutige Bilder gezeigt worden sein.

Die Umstände seines Todes sind unklar. Zwei alternative Berichte gibt es: Nach einem Bericht soll Gaddafi bei einem Feuergefecht verletzt worden und auf dem Weg in ein Krankenhaus verstorben sein. Andere Quellen berichten davon, dass er sich in einem Abwasserkanal vor den Truppen der neuen libyschen Regierung versteckt und bei seiner Entdeckung um Gnade gebeten haben soll (“Don´t shoot!” berichten die Medien).

Die Rechtmäßigkeit der Tötung soll hier kurz dargestellt werden.

Gaddafi war als de-facto-Staatschef und de-facto-Oberbefehlshaber rechtmäßiger Teilnehmer am internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Libyen und den alliierten Staaten sowie am nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zwischen seiner Regierung und den damaligen Rebellen / heute libysche Regierung. Auch das Verschmelzen dieser beiden Konflikte zu einem einzigen internationalen bewaffneten Konflikt ändert an der Bewertung nichts: Gaddafi war Kombattant. Eine (nicht die wichtigste!) Folge dieser Eigenschaft war, dass er rechtmäßig an den Kampfhandlungen teilnehmen dürfte (= töten dürfte) – und auch rechtmäßig getötet werden dürfte.

Aber: Dies gilt nur, solange er nicht hors de combat ist. Dies ist dann der Fall, wenn sich ein Kombattant in der Gewalt des Gegners befindet, klar und eindeutig seine Absicht, sich zu ergeben, kommuniziert oder aufgrund von Verletzungen und Krankheit außer Stande ist, sich zu verteidigen.

Wurde Gaddafi nun bei einem Feuergefecht verletzt und ist er diesen Verletzungen erlegen, so stellt sich seine Tötung einer ersten Einschätzung nach als rechtmäßig dar.

Stimmen aber die Berichte (was wahrscheinlicher sein soll, vgl. Spiegel Online), wonach er um Gnade gebeten haben soll, dann hat er sich ergeben und dürfte nicht getötet werden. Die Soldaten hätten ihn vielmehr, als Kombattanten, als Kriegsgefangenen in ihre Gewalt nehmen müssen (dieser Status ist die wichtige Rechtsfolge des Kombattantenstatus). Seine Tötung wäre in diesem Falle rechtswidrig – ein Kriegsverbrechen (Art. 8 Abs. 2 lit. b) num. vi) IStGH-Statut).

Die Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik behandelt in ihrem Oktoberheft den Schwerpunkt Völkerstrafrecht. Die Ausgabe ist online erhältlich (Link). Besonders hinweisen möchte ich auf den Aufsatz von Reinhard Merkel (hier) sowie meinen eigenen Aufsatz (hier). Beide befassen sich mit der Situation in Libyen.

Die Kollegen Becker und Brunner äußern sich in einem Bofax zu dem Thema „Libyen-Einsatz deutscher Soldaten wehrverfassungsrechtlich problematisch“. Manuel Brunner hat sich dazu bereits geäußert (hier und hier).

Auf der Website von Foreign Affairs sind zwei neue Artikel zu den aktuellen Entwicklungen in Libyen erschienen. Beide gehen davon aus, dass der Krieg gegen Gaddafi vorbei und gewonnen ist. Der Artikel von Michael O’Hanlon („Libya and the Obama Doctrine - How the United States Won Ugly“) ist leider nur zum Teil frei zugänglich. Er soll hier nicht besprochen werden.

Patrick Stewarts frei zugängliche völkerrechtliche Einschätzung des Krieges („Libya and the Future of Humanitarian Intervention -How Qaddafi’s Fall Vindicated Obama and RtoP“) muss man nicht teilen, man sollte ihr widersprechen.

Bevor wir zu den rechtlichen Fragen kommen: Stewart sagt deutlich, dass Präsident Obama mit dem multilateralen Vorgehen zwei Ziele verfolgt hat: kurzfristig den Stop der Gewalt gegen Demonstranten und langfristig den Sturz Gaddafis. Damit spricht er in aller Deutlichkeit und Sachlichkeit aus, was sonst oft einseitig berichtet und bewertet wird. Selbstverständlich ging es der Allianz gegen Gaddafi, insb. den US-Amerikanern und den Franzosen, um dessen Sturz. Dies kann in Anbetracht der Äußerungen in den letzten Monaten nicht geleugnet werden. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Resolutionen 1970, 1973 (beide 2011) ist dabei, dass dies freimütig von den US-amerikanischen, französischen und britischen Vertretern im Sicherheitsrat zugegeben wurde.

Aber es ging den Staaten eben auch um den Schutz der Menschenrechte, schlicht weil die Gewalt gegen die Demonstranten unerträglich war. Eine Verkürzung auf den Aspekt des regime change greift eben zu kurz, wie wir derzeit an den Schwierigkeiten der Bundesregierung in Paris sehen können.

Responsibility to Protect?

Die völkerrechtliche Bewertung, die Stewart in der Folge vornimmt, ist zurückzuweisen. Er spricht davon, dass das Vorgehen im Rahmen der „responsibility to protect” (r2p) gerechtfertigt sei und damit der Diskussion um die Zulässigkeit humanitärer Interventionen neuer Stoff geliefert werde.

Nur: Die r2p ist gar nicht einschlägig. Das wird zwar immer wieder behauptet (hier zum Beispiel), ist aber wohl nicht zutreffend.

Die r2p ist vom Weltgipfel der Vereinten Nationen 2005 beschlossen worden. Danach ist in erster Linie ein Staat dafür verantwortlich, dass seine Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen geschützt wird. Ist er dazu nicht willens oder nicht in der Lage, oder ist er, wie in Libyen, selbst dafür verantwortlich, dann geht auf einer zweiten Stufe diese Verantwortlichkeit auf die internationale Gemeinschaft über. Wenn deren friedliche Schritte nicht zum Erfolg führen, soll auf der dritten Stufe der Sicherheitsrat für die Staatengemeinschaft tätig werden – ggf. auch mit militärischen Mitteln.

Die r2P ist aus mehreren Gründen unergiebig:

- Den Beschluss über die r2P hat die Generalversammlung getroffen. Auch wenn der Sicherheitsrat diesen begrüßt hat, ist eine Resolution der Generalversammlung rechtlich unverbindlich.

- Darüber hinaus ist die r2p auch keine neue Rechtsentwicklung, sie stellt nur ein politisches Konzept dar (hier).

- Im Falle Libyens ist die erste Stufe „gescheitert”. Die zweite Stufe wurde aber gar nicht groß betreten, bevor der Sicherheitsrat tätig wurde.

- Anders als in dem einzigen Fall, indem der Sicherheitsrat sich auf die r2p berufen hat (Res. 1674 [2006]) hat der Sicherheitsrat bei der Res. 1970 (2011) einen solchen Verweis unterlassen.

Res. 1970 als Muster für zukünftige Einsätze?

Stewart ist der Auffassung, dass trotz des Erfolges ein ähnliches Vorgehen wie in Libyen in keinem anderen Fall zu erwarten sei, dazu sei die Situation zu einmalig: Gaddafi sei ein Schurke ersten Grades, der selbst seine Verbündeten verprellt habe; kein ständiges Sicherheitsratsmitglied habe spezielle Sympathien gegenüber Libyen oder irgendwelche Interessen am Gaddafi-Regime; Libyen sei aus taktischer Sicht einfacher zu bekämpfen als andere Staaten; durch die Nähe zu Europa wären europäische Staaten schon aus praktischen Gründen geneigter gewesen, eine Koalition zu bilden und es gab eine wirkliche Oppositionsbewegung vor dem Beginn der Kämpfe.

Hier wurde bereits eine andere Einschätzung vorgenommen. Ich teile den Optimismus nicht, sondern befürchte, dass die Res. 1970 (2011) Muster für zukünftige Operationen sein wird. Darüber hinaus ist mir nicht klar, wie der Libyenkrieg die zukünftige Entwicklung beeinflussen soll, wenn er doch so einmalig war. Mir scheint, Stewart vermischt das politische Konzept der Schutzverantwortung mit den rechtlichen Rahmenbedingungen und trennt politische r2p und rechtliche r2p nicht.

r2p in der US-amerikanischen Politik

Sehr interessant sind die Ausführungen zur r2p aus inneramerikanischer Sicht. Stewart macht deutlich, dass sich Obama mit seinem Verweis auf die r2p deutlich gegenüber der Vorgängerregierung absetzt. Problematisch sei, dass die USA das einzige Land der Welt seien, die in der Lage wären, eine r2p immer und überall durchzusetzen, auch wenn dies freilich nicht passiere. Stewart sieht es allerdings aus verschiedenen Gründen als positiv an, dass die USA die r2p nicht allein, immer und überall durchsetzten. Dagegen stehen die Souveränität des betreffenden Staates, Gewaltanwendung seien immer ultima ratio, die darüber hinaus multilateral vorzunehmen seien und immer die Bereitschaft voraussetzten, nach der Gewalt im Land zu bleiben und den Frieden durch verschiedene Maßnahmen zu sichern.

Diese Gründe leuchten aus rechtlicher Perspektive ein – auch wenn bedacht werden muss, dass auf der anderen Seite Menschen und Menschenrechte stehen. Rechtmäßig wird eine humanitäre Intervention nach derzeitigem Völkerrecht nur, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine militärische Intervention nach Kapitel VII der Charta beschließt – damit liegt aber keine humanitäre Intervention mehr vor, denn dieser Begriff bezeichnet gerade das Handeln ohne eine solche Sicherheitsratsermächtigung.

)Eine letzte Anmerkung: eine einseitige Durchsetzung der r2p ist genau genommen auch keine Durchsetzung der r2p, die immer eine kollektive Dimension hat.)

Noch immer hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Vermögenseinfrierungen aus Res. 1970 (2011) nicht aufgehoben. Dennoch kündigen zahlreiche Staaten, darunter auch Deutschland, an, die eingefrorenen Gelder an die Rebellen auszahlen zu wollen.

Es bleibt bei der völkerrechtlichen Lage: Solange der Sicherheitsrat die Gelder nicht freigibt oder der 1970-Ausschuss die Gelder nicht freigibt, ist eine Auszahlung – an wen auch immer! – völkerrechtswidrig.

Leider ist die Homepage des 1970-Ausschusses nicht aktualisiert, so dass nicht klar wird, ob vielleicht solche Ausnahmegenehmigungen erteilt wurden. Großbritannien gab allerdings bekannt, eine Freigabe durch die VN erteilt bekommen zu haben. Was darunter zu verstehen ist, bleibt mir unklar.

Update 2.9.: Die FAZ meldet heute auf S. 1 dass der Sanktionsausschuss dem deutschen Antrag entsprochen hat und Gelder in Höhe von 1 Milliarde Dollar freigegeben hat.

Thomas Darnstädt von SPIEGEL Online hat einen interessanten Beitrag zur Frage “Libyen und das Völkerrecht” verfasst, in dem auch die Professoren Claus Kreß und Kai Ambos zu Wort kommen.