Im Angesicht des bevorstehenden (?) Sieges der libyschen Rebellen wollen zahlreiche Staaten die eingefrorenen Gelder Gaddafis an den Übergangsrat auszahlen bzw. zu dessen Verfügung freigeben. So berichtet SPIEGEL Online dass die Sicherheitsrats-Delegation der USA auf eine Freigabe der Gelder drängt, während die Südafrikaner eine Anerkennung des Übergangsrates durch die Afrikanische Union abwarten wollen.

Da die Sicherheitsratsresolutionen 1970und 1973 weiter bestehen, ist jede Auszahlung des libyschen Auslandsvermögens oder Gaddafis Auslandsvermögens völkerrechtswidrig. Erst wenn der Sicherheitsrat die Gelder auftaut, darf wieder auf sie zugegriffen werden.

Dann stellen sich aber andere Probleme:

Erstens, solange es sich um staatliches Auslandsvermögen handelt kann der Übergangsrat erst darauf zugreifen, wenn er den libyschen Staat repräsentiert. Solange das Gaddafi-Regime aber als libysche Regierung anerkannt ist, ist der Zugriff der Übergangsrates gesperrt. Und wer derzeit für das Völkerrechtssubjekt Libyen spricht ist alles andere als klar. Je nach Gesprächspartner sind entweder das Gaddafi-Regime oder der Übergangsrat Repräsentanten. Nur wer den Übergangsrat anerkannt hat, darf in diesem den völkerrechtlichen Repräsentanten Libyens sehen. Die Anerkennung kann allerdings auch in einer Zahlung der eingefrorenen Gelder an den Übergangsrat liegen (konkludente Anerkennung).

Zweitens, solange es sich um Gaddafis Privatvermögen handelt wird die Rechtslage schwierig (Dass beide Vermögensmassen nicht oder nur schwer zu trennen sind, sei dahingestellt). Der Sicherheitsrat darf sicher nicht über die Verschiebung von Privatvermögen entscheiden, er hat dazu schlicht keine Kompetenz. Und um nichts anderes handelt es sich, wenn der Sicherheitsrat das Vermögen der Familie Gaddafi antastet. Selbst wenn die Familie das Geld dem libyschen Staatn gestohlen hat, darf der Sicherheitsrat dies nicht rückgängig machen. Diese Aufgabe obliegt in einem Rechtsstaat den Gerichten. Die deutschen Delegation in New York sollte dies im Hinterkopf behalten.

Update 26.8.: SPIEGEL Online berichtet über eine Freigabe der Gelder. Allerdings finde ich keine Meldung darüber, dass der Sicherheitsrat oder der 1970-Sanktionsausschuss diese Freigabe gebilligt hat (so auch FAZ 26.8. S. 2 und die Presseerklärung der VN). Die Tendenz geht aber klar in Richtung Freigabe durch die VN.

Die Lage in ganz Libyen ist undurchsichtig…In ganz Libyen? Nein! Denn neben den offenen Fragen (Wo ist Gaddafi? Was ist genau mit seinen Söhnen passiert? Wer kontrolliert welche Teile von Tripolis?) ist eine Frage nunmehr geklärt: Das Verschmelzen von Bürgerkrieg und internationalem Konflikt zu einem einzigen Libyen-Krieg.

Bislang musste man davon ausgehen, dass in Libyen zwei Konflikte vorlagen: Zum einen der nicht-internationale bewaffnete Konflikt zwischen den Rebellen und der Regierung (vulgo: Bürgerkrieg) und zum anderen der internationale bewaffnete Konflikt zwischen der libyschen Regierung und den Staaten, die von der Ermächtigung aus Res. 1973 (2011) des Sicherheitsrates zum Krieg gegen Libyen Gebrauch gemacht haben (näheres hier).

Verschmelzen der Konflikte

Verschiedene Medien berichten nun ganz offen, dass die Staaten gemeinsam mit den Rebellen gegen das Gaddafi-Regime vorgehen. Deutlich wird dies bei SPIEGEL ONLINE („Nato ebnete Rebellen den Weg“). Solche Berichte hat es in der Vergangenheit immer gegeben. Jetzt ist es aber nicht mehr zu leugnen: Wenn die Rebellen Gaddafis Palast in Libyen angreifen und dabei von der Luftunterstützung der Staaten profitieren, dann arbeiten sie zusammen. In diesem Fall schlagen sich die Staaten auf die Seite der Rebellen. Damit stehen sich auf beiden Seiten Völkerrechtssubjekte gegenüber und damit verschmelzen die beiden Konflikte zu einem.

Welche Bedeutung hat das? Vor allem kommt jetzt ein anderer Katalog von Kriegsverbrechen in Betracht. In Zukunft sind dies nicht mehr nur die Kriegsverbrechen  in einem Bürgerkrieg, sondern die eines internationalen Konfliktes. Wichtig ist dies, weil im Bürgerkrieg weniger Straftatbestände existieren als im internationalen Konflikt.

Res. 1970, 1973 (2011) als Blaupause für die Zukunft?

Zu befürchten ist – wenn denn der Krieg in den nächsten Tagen oder Wochen zu Ende gehen sollte – dass willige Staaten sich in Zukunft ein Beispiel am Vorgehen gegen Libyen nehmen werden.

Anders als in Afghanistan oder im Irak sind eben kaum internationale Bodentruppen im Kriegsland (außer den zur Zielmarkierung erforderlichen Einsatzkräften). Vielmehr nutzt die Allianz ihre Luftüberlegenheit. Die Staaten müssen im Libyen-Krieg wesentlich weniger Kosten vor ihren Bevölkerungen rechtfertigen: Sowohl weniger Menschenleben auf der eigenen Seite als auch weniger finanzielle Ressourcen.

Die militärischen Maßnahmen sind völkerrechtlich zulässig (dazu mehr hier). Sie sind zwar ausdrücklich auf den Schutz von Zivilpersonen beschränkt, aber wenn eine Regierung Krieg gegen das eigene Volk führt, dann führt der Sturz dieser Regierung eben zum Schutz der Zivilbevölkerung (zumindest in der Theorie, ein Gegenbeispiel bildet vor allem der Irak).

Trotzdem ist/wird das erklärte Ziel erreicht: Das Regime fällt.

Man kann nun das Vorgehen der Allianz als genuin altruistisch betrachten, oder den Staaten Böses unterstellen. Es bleibt abzuwarten, welches Beispiel die Res. 1970, 1973 (2011) setzen.

Wie bereits überall zu lesen ist, haben die libyschen Rebellen eigenen Angaben zufolge Tripolis erobert und stehen kurz davor, das Gaddafi-Regime zu stürzen. Saif-al-Islam, de-facto-Ministerpräsident, soll festgenommen worden sein (wie auch immer diese Festnahme rechtlich zu qualifizieren ist). Muammar al-Gaddafi ist verschwunden.

Sollte das Regime wirklich fallen, und sollten die drei per Haftbefehl gesuchten Personen gefunden werden, dann erleichtert dies natürlich die Strafverfolgung vor dem IStGH. Dann ist damit zu rechnen, dass die Verdächtigen von den Rebellen nach Den Haag überstellt werden.

Es bleibt abzuwarten, ob/wie wahr die Erfolgsmeldungen der Rebellen sind.

Anna Dolidze, Mitglied der American Society of International Law, hat eine Analyse zu den Entscheidungen des Afrikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Bezug auf Libyen geschrieben (African Court on Human and Peoples’ Rights – Response to the Situation in Libya, ASIL insights, vol. 15, No. 20 vom 26. Juli 2011, hier abrufbar). Sie befasst sich vor allem mit den verschiedenen Akteuren, die in Afrika und speziell in Libyen zur Wahrung der Menschenrechte berufen sind.

Insbesondere lohnenswert sind die Ausführungen zu den unterschiedlichen Institutionen. Erstaunlicherweise ist das Völkerrecht in Afrika immer noch ein Bereich, den die internationale Literatur kaum zur Kenntnis nimmt – solange es nicht um Krieg geht (apropos: wann erscheint endlich Andreas Zimmermanns Buch ‚Africa and International Law’?).

Einen zweiten Schwerpunkt setzt die Autorin bei dem Verfahren gegen Libyen. Sie berichtet, wie die Entscheidungen des Gerichtshofs zustande gekommen ist. Dabei betont Dolidze, wie sehr sich Libyen gegen jede Einmischung verwahrt und die Beschlüsse des Gerichtshofs umgeht.

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Vereinte Nationen enthält einen Beitrag zu den “UN-Maßnahmen gegen Libyen” von Robin Geiß und Maral Kashgar. Ich bin noch nicht zur genauen Lektüre gekommen, sondern habe den Artikel nur überflogen. Auf den ersten Blick stimme ich dem Artikel aber zu.

Am 27.6.2011 hat die Vorverfahrenskammer I des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag Haftbefehle gegen den libyschen de-facto-Staatschef Muammar al-Gaddafi, dessen Sohn und libyschen de-facto-Regierungschef Saif-al-Islam und den Chef des militärischen Geheimdienstes Abdullah al-Senussi erlassen. Sie ist dabei im Großen und Ganzen dem Antrag des Anklägers von Mitte Mai gefolgt – eine unglückliche Entscheidung.

(1) Die Haftbefehle ergingen wegen des Verdachts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit der vorsätzlichen Tötung (Art. 7 Abs. 1 lit. a] IStGH-Statut) und der Verfolgung (Art. 7 Abs. 1 lit. h] IStGH-Statut). Die Kammer sieht den erforderlichen Begehungszusammenhang als erfüllt an. Dieses geschieht mit großem Begründungsaufwand, denn das Chapeau von Art. 7 IStGH-Statut setzt voraus, dass eine Handlungen im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen werden muss, um als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gelten.

(2) Konsequenterweise stellt die Kammer keinen Haftbefehl für Kriegsverbrechen aus. Konsequent, weil schon der Antrag des Anklägers ausdrücklich keine Kriegsverbrechen umfasste. Dies verwundert. Denn zu Recht geht der Ankläger davon aus, dass „seit Ende Februar“ ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt. Er meint sogar ausdrücklich, dass Kriegsverbrechen begangen werden. Umso erstaunlicher, dass Kriegsverbrechen fehlen, weil diese gerade keinen Begehungszusammenhang erfordern, sondern nur, dass eine Tat im bewaffneten Konflikt begangen wurde. Damit ist der Begründungsaufwand kleiner, eine geplanter Großangriff auf die Zivilbevölkerung muss gerade nicht nachgewiesen werden. Warum der Ankläger seinen Antrag beschränkt hat, erschließt sich nicht.

(3) Die Gesuchten genießen keine Immunität. Dies gilt allerdings erst seit dem 26.2.2011, denn erst an diesem Tag hat der Sicherheitsrat mit Resolution 1970 (2011) etwaige gewohnheitsrechtliche Immunitäten aufgehoben. Der vertragsrechtliche Verzicht auf die Immunität durch Art. 27 IStGH-Statut gilt für Libyen als Nichtvertragspartei gerade nicht. Rückwirkend kann auch der Sicherheitsrat die Immunität nicht aufheben. Problematisch dabei ist, dass die den Gaddafis vorgeworfenen Taten, in dem „Zeitraum vom 15.2. bis mindestens zum 28.2.2011“ begangen worden sind. Damit muss sich der Haftbefehl auf die letzten beiden Februartage beschränken, um völkerrechtsgemäß zu sein. Al-Senussi ist der Kammer zufolge für den Zeitraum bis zum 20.2.2011 verantwortlich, da unsicher ist, ob er später noch Einfluss über den Geheimdienst hat.

(4) Vollstreckt werden müssen die Haftbefehle von den Mitgliedstaaten des IStGH und von Libyen selbst, das als Nichtvertragspartei über Res. 1970 (2011) zur Kooperation verpflichtet wurde, jede Kooperation aber ablehnt. Der Nationale Übergangsrat der Aufständischen hat bereits angekündigt, die Haftbefehle vollstrecken zu wollen. Entgegen der Ansicht des Anklägers deckt Res. 1973 (2011) des Sicherheitsrates eine Festnahme durch fremde (Boden-)Truppen: Dort sind alle (militärischen) Maßnahmen zum Schutz von Zivilpersonen erlaubt (Rn. 4), die Haftbefehle ergehen, um weitere Verbrechen gegen die Bevölkerung zu verhindern (Art. 58 I lit. b] iii] IStGH-Statut und jeweils S. 6 der Haftbefehle).

(5) Völkerrechtlich einwandfrei sind die Haftbefehle keineswegs. Auch politisch dürften sich die Organe des IStGH keinen Gefallen getan haben. Zur effektiven internationalen Strafverfolgung wäre es wohl klüger gewesen, sich nicht in einem Antrag auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und in einem zweiten Antrag auf Kriegsverbrechen zu beschränken (der zweite Antrag wird bereits erwartet, vgl. Spiegel Online), sondern einen umfassenden Haftbefehlsantrag zu stellen, der alle bisherigen Vorwürfe und Zeiträume umfasst.

Update: Der Text ist mit leichten Änderungen vom Institut für Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum  als BOFAX Nr. 388D herausgegeben worden (Download).

Die Vorverfahrenskammer I des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag hat heute drei Haftbefehle in der Libyen-Situation ausgestellt. Leider ist bislang nur die Pressemitteilung veröffentlicht, die Haftbefehle selber noch nicht. Die Kammer ist dabei dem Antrag des Chefanklägers gefolgt, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als gegeben ansieht. Morgen wird sich der Ankläger in einer Pressekonferenz dazu äußern.

Auch hier wird sich bald dazu ein weiterer Eintrag finden. Näheres zu dem Antrag des Anklägers finden Sie hier und hier.

Update 28.6.: Die Entscheidung der Kammer sowie die Haftbefehle sind nunmehr auf der Website des IStGH online verfügbar.

Der Chefankläger des IStGH hat bekannt gegeben, dass auch Vorwürfe wegen sexueller Gewalt in Libyen geprüft werden, das berichten Spiegel Online und die NZZ. Gaddafi habe nicht nur seinen Soldaten Massenvergewaltigungen befohlen, sondern darüber hinaus auch Potenzmittel an die Soldaten verteilt. Diese Vorwürfe sollen wohl Grundlage für eine zweite „Anklage” gegen Gaddafi sein (so berichtet Spiegel Online). Möglicherweise wird der Ankläger in der zweiten Anklage nicht mehr nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch Kriegsverbrechen anklagen – eine überfällige Entscheidung.

Berichtet wird weiterhin, dass der Ankläger bereits in den nächsten Tagen eine Entscheidung über den ersten Haftbefehlsantrag erwarte.

Die Darfur-Situation steht still. Derzeit befindet sich kein Verdächtiger oder Angeschuldigter in Den Haag. Vielmehr sind die per Haftbefehl gesuchten Personen noch immer auf freiem Fuß und begehen weitere Verbrechen. Am prominentesten ist der Fall al-Bashir. Der wegen des Verdachts auf Völkermord gesuchte Präsident des Sudan ist nicht nur weiter im Amt, sondern behindert die Arbeit des IStGH wo immer er nur kann. Darüber hinaus reist al-Bashir unbehelligt durch Afrika und genießt eine breite Unterstützung anderer Staatsoberhäupter.

Angeregt durch diese Missachtung des IStGH plädiert David Kaye für eine Neuausrichtung des IStGH. Kaye, Direktor des International Human Rights Programs der UCLA, nimmt die für 2012 vorgesehene Neubesetzung des Chefanklägerpostens zum Anlass, seine Sorgen über die Zukunft des IStGH zu äußern (Who´s afraid of the International Criminal Court? in: Foreign Affairs 90 [2011], S. 118 ff.). Seine Bedenken gelten nicht nur der Darfur-Situation sondern der gesamten Arbeit des IStGH: Trotz neun Jahre und fast einer Milliarde Dollar ist noch kein einziger Prozess zum Abschluss gekommen.

David Kayes Kritik

Beachtenswert sind vor allem die folgenden kritischen Aspekte in Kayes Kritik.

David Kaye vermisst eine klare Ausrichtung der Anklagebehörde auf die Strafverfolgung – ein hartes Urteil über eine Strafverfolgungsbehörde. Der derzeitige Amtsinhaber sei, so Kaye, vielmehr auf öffentlichkeitswirksame Maßnahmen aus (Haftbefehl gegen al-Bashir). Moreno Ocampos Amtszeit sei schon jetzt von „micro-managing and erratic decision-making“ gekennzeichnet. Er verstricke sich in Rangeleien um Kompetenzen mit den Kammern des Gerichtshofs; damit werden Spannungen innerhalb des IStGH deutlich, der doch eigentlich als einheitliche Front gegen Völkerstraftäter auftreten sollte.

Den Haftbefehl gegen al-Bashir hält Kaye für eine Fehlentscheidung. Nicht nur sei der Antrag nur ergangen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es wäre auch sinnvoller gewesen, zuerst einige Fälle gegen Personen auf unteren Kommandoebenen durchzuführen. Dann habe man eine breitere, gesicherte Basis um gegen höhere Befehlshaber vorzugehen. Weiterhin habe der Ankläger riskiert, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird und so zunächst die Effektivität beeinträchtigt und danach die Glaubwürdigkeit und den Ruf des IStGH aufs Spiel gesetzt wurden. Der IStGH erweisst sich, mit einigen unvollstreckten (oder unvollstreckbaren?) Haftbefehlen eben als der Papiertiger, den Befürworter der IStGH fürchten und Kritiker des IStGH herbeisehnen.

Dem Ankläger ist aber zugutezuhalten, dass al-Bashir wohl in der geheimen Liste von 51 Verdächtigen steht, die die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen schon 2005 an den IStGH übergeben hat. Kaye übersieht diesen Punkt in seiner Kritik.

Auf die Liste kommt Kaye dennoch zu sprechen; er nutzt sie als weiteren Angriffspunkt gegen Moreno-Ocampo. Kaye kritisiert, zu Recht, dass erst gegen fünf Personen Verfahren vor dem IStGH geführt werden und dass das Verfahren gegen Abu Garda im Vorverfahren eingestellt wurde (vgl. Analyse Nr. 5). Der Ankläger kennt aber seit 2005 mindestens 45 weitere Personen, gegen die ermittelt werden kann. Warum gegen diese nicht ermittelt wird, ist nicht auszumachen; es mag aber an den begrenzten Ressourcen des Gerichtshofs liegen.

Die Wirkungslosigkeit des IStGH sei aber nicht nur dem IStGH und dem Ankläger zu verdanken. Ebenso in der Pflicht sieht Kaye den Sicherheitsrat. Dieser hat die Darfur-Situation an den IStGH überwiesen und damit zumindest politisch Verantwortung übernommen – auch für die Zukunft des Verfahrens. Für eine effektive internationale Strafverfolgung ist die Hilfe des Sicherheitsrates unerlässlich: Haftbefehle könnten vollstreckt werden, wenn der Sicherheitsrat solchen Staaten mit Sanktionen drohen wurde, die die Haftbefehle des IStGH missachten und Verdächtige frei ein- und ausreisen lassen. Über die Darfur-Situation hinaus gelte dies, so Kaye, auch für alle anderen anhängigen Situationen vor dem IStGH.

Verschlechterung der Lage durch Überweisung der Libyen-Situation?

Nur zwischen den Zeilen gibt Kaye zu verstehen, dass die Überweisung der Libyen-Situation die Lage verkomplizieren wird.

Den Antrag auf den Erlass von Haftbefehlen in der Libyen-Situation hält David Kaye für einen Fehler. Nicht nur, dass der Ankläger die Situation erst ausermitteln sollte, er sollte vor allem nicht schon wieder an der Spitze der Befehlskette anfangen und Muammar al-Gaddafi vor den IStGH stellen wollen. Der IStGH sei schlicht überfordert, wenn er gegen zwei amtierende Staatsoberhäupter gleichzeitig ermittelt.

Kaye bemängelt, dass im Verfahren gegen Thomas Lubanga Dyilo verpasst wurde, die Anklage möglichst breit zu streuen und viele mögliche Punkte anzuklagen. In diesem Verfahren vermisse er vor allem Anklagepunkte wegen sexueller Gewalt und geschlechterspezifischen Verbrechen.

Die Kritik gilt, das sagt Kaye nicht, auch für den ersten Haftbefehlsantrag in der Libyen-Situation. Auf dieser Website wurde bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass in Libyen nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch Kriegsverbrechen in Betracht kommen. Der Ankläger hat seinen Antrag von Mai 2011 aber ausdrücklich nicht auf die Begehung von Kriegsverbrechen erstreckt. Warum er eine solche Beschränkung vornimmt, obwohl er inzwischen die Existenz eines bewaffneten Konflikts anerkennt, bleibt für mich unverständlich. Dank der Beschränkung muss sich die Anklage nunmehr auf den Begehungszusammenhang bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentrieren – wie die Kenia-Situation zeigt, wird dies nicht einfach werden (vgl. Analysen Nr. 9 und 10, Analyse Nr. 11 mit weiteren Ausführungen zu diesem Problem erscheint demnächst).

Was ist von der Kritik zu halten?

Was ist von der Kritik zu halten? Kaye hat in vielen Punkten Recht, so sind insb. nicht alle Schritte der Anklagebehörde nachzuvollziehen. Allerdings muss man dem IStGH anrechnen, dass er gegen viele Widerstände zu kämpfen hat und eben nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, nicht die volle Unterstützung der Staatengemeinschaft zu haben. Insbesondere der Sicherheitsrat ist immun gegen Kritik von Außen. Im Interesse der effektiven Strafverfolgung dürfte es aber liegen, sich zunächst auf low-profile Täter zu konzentrieren, bevor aufgrund auch der dort ermittelten Sachverhalte die Spitze der Befehlskette angegangen wird. Auch darf nicht vergessen werden, dass der Ankläger nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung hat um sechs Konflikte aufzuarbeiten, von denen er fünf überwiesen bekommen und sich nur eine „selbst ausgesucht“ hat. Insofern sind wohl die Staaten und der Sicherheitsrat in der Pflicht, bevor dem Ankläger die Schuld an mangelndem Erfolg gegeben werden kann.

Auf der Website von Foreign Affairs sind zwei Kurzanalysen erschienen, die sehr empfehlenswert sind. Zum einen berichtet Andrew Natsios, ehemaliger US-amerikanischer Sonderbeauftragter für den Sudan, von der aktuellen Lage im (Süd-)Sudan und wie der Konflikt dort den Konflikt in Libyen beeinflussen kann. Natsios zufolge könnte Omar al-Bashir sich auf die Seite der Gegner von Gaddafi schlagen und so zum wirklich unwillkommenen Verbündeten der NATO werden.

Zum anderen gibt sich David Kaye pessimistisch, was den Erfolg der ersten drei möglichen Haftbefehle in der Libyen-Situation angeht (mehr dazu in Analysen Nr. 10 und 11 in der Datenbank).